Jahre der Verbundenheit (1863-1876)

Über die Kontakte zwischen Schmidt und Freytag nach der Übersiedlung Schmidts nach Berlin ist die Quellenlage nicht sehr breit, aber es zeichnet sich ein deutliches Bild ab. Spätestens im Herbst des Jahres 1861 wusste Gustav Freytag von Julian Schmidts beabsichtigter Übersiedlung nach Berlin zum bevorstehenden Jahreswechsel. Auch wenn sich von nun an die Wege beider Männer zumindest räumlich trennten, so hat doch offensichtlich stets eine recht kontinuierliche Verbindung zwischen den beiden Grenzboten-Freunden bestanden. Dies belegen Briefe Freytags, die sich im Nachlass Julian Schmidts in der Staatsbibliothek zu Berlin finden. Über einen längeren Zeitraum verstreut (das letztdatierte Dokument stammt aus dem Jahr 1884) hat Gustav Freytag mit Julian Schmidt korrespondiert – und die Anreden und Grußformeln Freytags lassen darauf schließen, dass zwischen beiden Männern ein weiterhin freundschaftliches, zumindest jedoch respektvolles Verhältnis bestanden hat. So verwendet Freytag in seinen Briefen an Julian Schmidt die Anreden „Lieber Schmidt“ oder „Liebster Schmidt“ , „Mein allerliebster Schmidt“ und „Lieber treuer Schmidt“. Auch die Anreden „Mein lieber Freund“ und „Lieber treuer Schmidt“ finden sich. In dem letztdatierten Dokument des Nachlasses, einer Postkarte vom Juli 1884, verwendet Freytag die Anrede „Geliebter Freund“. 41

Auch wenn man einen Blick auf die Grußformeln der erhaltenen Schreiben Freytags an Schmidt wirft, zeichnet sich ein einheitliches Bild ab: Freytag schließt seine Briefe u.a. mit „herzliche Grüße von ihrem getreuen Freytag“ , „Ihr treuer Freytag“ oder „Ihr alter treuer F.“ 42

Nun mag man einwenden, dass Grußformeln eben "Formeln" sind und insofern nichts aussagen über wirkliche Gefühle und keinen Hinweis geben können, wie es um die Beziehung beider Männer im Ernste bestellt war. Doch findet man sich in den sprachlichen Duktus der Briefe Freytags hinein und berücksichtigt zudem das, was inhaltlich verhandelt wurde, so bleibt als Fazit: es bestand eine enge, vertraute Beziehung zwischen Julian Schmidt und Gustav Freytag auch nach Schmidts Weggang nach Berlin. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

Die im Nachlass Julian Schmidts vorhandenen Dokumente thematisieren politische und schriftstellerische Fragen, aber auch Persönliches. Eine zentrale Stellung nimmt die Krise bei den "Grenzboten" ein. Darüber gibt es einen eng beschriebenen vierseitigen Brief vom 29.12.1870. Doch der Reihe nach.

Am 1. Januar 1862 erschien die „Berliner Allgemeine Zeitung“ zum ersten Mal - Julian Schmidt war ihr Redakteur. Zu den Mitarbeitern gehörte der damals junge Wilhelm Dilthey. 43 Ein Erfolg der Zeitung war nur schwer möglich, denn die altliberale Partei war gespalten: sie war in der damals politischen Hauptfrage des Tages, der Militärreorganisation, oppositionell; zudem war bei der Abgeordnetenhauswahl vom November 1861 mit der „Fortschrittspartei“ eine demokratisch starke Kraft aufgetreten, von der sich die Altliberalen allerdings unterscheiden wollten. Dies zementierte offenbar deren isolierte Stellung. 44

Julian Schmidt war kein "politischer Kopf": Taktieren und Kalkulieren waren ihm ebenso fremd wie diplomatisches Geschick. Er war also eigentlich der denkbar ungünstigste Redakteur für die altliberale “Berliner Allgemeinen Zeitung”. Vier Wochen nach ihrem Erscheinen lag die Zeitung „mit aller Welt im Streit.“ Das Niveau der BAZ besserte sich zwar, als Schmidt „das große publizistische Talent“ Alexander Meyer für die Redaktion gewann, doch aufgrund finanzieller Engpässe wurde ihr Erscheinen im Jahr 1863 eingestellt.

„Schmidt aber gewann in der Hauptstadt eine neue Heimat, die ihm lieb wurde. Der kleine Haushalt, in dem er mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welcher sich viele der besten und vornehmste Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten.“ 46 Auch Gustav Freytag gehörte in den folgenden Jahren zu den regelmäßigen Besuchern im Haus Julian Schmidts in Berlin, wie z.B. aus den Lebenserinnerungen des Schriftstellers Ludwig Pietsch hervorgeht. Er charakterisiert Gustav Freytag, den er dort antraf, in folgender Weise:

„Dem Dichter von Soll und Haben, Die Journalisten und Valentine, dem ich seit Jahren so große, reine geistige Freuden dankte, brachte ich eine innige Verehrung entgegen. Seine Erscheinung freilich war von allem frei, was auf einen gottbegnadeten Poeten hinweist, wenn sie auch den klugen Kopf, den tüchtigen und grundgediegenen Mann in jedem Zuge verriet. Sein Auftreten und Bezeigen war kühl und reserviert. Nichts darin erinnerte an das Naturell und den Typus seiner Lieblingshelden v. Fink und Konrad Bolz. Aber die innere Wärme leuchtete dennoch, wenn sich der rechte Anlass bot, erkennbar genug durch die Umhüllung mit Gelassenheit, Ruhe und Gleichmut hindurch. Auch der behagliche Humor, die frische Munterkeit, welche jene Dichtungen würzen, zuckten damals noch zuweilen in seinen Zügen, blitzten aus seinen grauen Augen und äußerten sich in manchem hübschen sinnreichen Ausspruch, in mancher ironischen heiteren Betrachtung, in mancher treffenden lustigen Schilderung von Erlebnissen und Beobachtungen von Menschen und Dingen, mancher fesselnden kleinen Erzählung. Der kecke Übermut jener seiner populärsten Charakterfiguren freilich, die so ganz den Eindruck machen, als hätte ihr geistiger Schöpfer selbst dazu Modell gestanden, schien ihm, dem damals Zweiundvierzigjährigen, völlig abhanden gekommen oder mit bewusster Absicht von ihm abgelegt zu sein.“ 47

Wann genau Pietsch diese Begegnung mit Freytag im Haus Julian Schmidts hatte, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich aber fand sie relativ bald nach Schmidts Eintreffen in Berlin statt, wie die Datierung Pietschs nahelegt. Vielleicht wird aber auch ein Bild Freytags gezeichnet, das sich aus mehreren Begegnungen zu einem Ganzen formte. Es fällt auf, dass Freytag offenbar eine Umhüllung trägt, dass er sein Seelisches verbirgt und hinter einer Kühle und Reserviertheit versteckt. Vielleicht war er aber auch (noch) verletzt durch die zurückliegenden Ereignisse. Vielleicht traute er sich nicht, wieder sein Leben mit einem Menschen zu verbinden. Wir erinnern uns an seine von ihm als schicksalhaft erlebte Enttäuschung mit Julian Schmidt und dem Herzog von Gotha.

Zu Beginn der 60-er Jahre hat sich Freytag zudem von den literaturkritischen Arbeiten Schmidts, welche „von polemischer Radikalität“ waren, kritisch distanziert. Schmidts Vorbild waren jetzt die Romane von Dickens und Scott. (Aber auch Freytags Roman Soll und Haben). „Kritisch betrachtete er die Weimarer Klassik. Er verwarf die Literatur der Romantik und des Vormärz.“ Die „Experimentierfreude“ eines Karl Gutzkow bewertete Schmidt negativ. 48 Eine Richtung, die Freytag nicht unbedingt teilte. Dennoch: Kontakte blieben bestehen und wurden gepflegt, auch persönlich. Zum Beispiel im Juli des Jahres 1864: das Ehepaar Schmidt besuchte die Freytags in Siebleben. Freytag blickt zurück: „Ich bin in diesen Tagen durch Schmidts Besuch um anderthalb Tage bemaust worden. Er u. seine Frau beide sehr behaglich mit sich zufrieden u. wie mir scheint unbesorgt um die Zukunft.“ 49 Nach der "kühlen" Begegnung des Vorjahres also wieder eine "Erwärmung" der persönlichen Beziehungen?

Ludwig Pietsch erwähnt in seinem Erinnerungsbuch wohl ebendiese Reise aus dem Jahr 1864, die ihn, seine Gattin Marie und das Ehepaar Schmidt nach Thüringen führte 50: „Julian Schmidt beabsichtigte mit seiner Frau eine Sommerreise nach der Schweiz auszuführen. Unterwegs aber gedachte er in Siebleben und Eisenach haltzumachen, um dort Gustav Freytag, hier Fritz Reuter zu besuchen. Da ich selbst den dringenden Wunsch hatte, letzteren persönlich kennenzulernen und mit ihm das Unternehmen der illustrierten Ausgabe von Ut mine Stromtid zu besprechen, so hielt ich es für das geratenste, mich Schmidts anzuschließen. Aber auch meine Frau sollte und musste den Spender unserer besten Freuden sehen und ihm danken. So begleitete auch sie mich bis Eisenach.“ 51. „An einem schönen Julimorgen trat ich mit meiner Frau und dem Julian Schmidtschen Paar die Reise nach Thüringen an. Eine in fröhlicher Laune gemachte Eisenbahnfahrt brachte uns nachmittags nach Gotha.“ 52 „Während Schmidts nach Siebleben fuhren, wanderten ich und meine Frau nach Friedrichsroda, übernachteten dort … und wanderten über Ruhla und die Hohe Sonne zur Wartburg und stiegen, als der Tag sank, durch die kühlen Buchenhallen und Felsgründe zu Fritz Reuters Häuschen gegenüber dem Kirchhof von Eisenach hinab. Es war noch nicht die später von ihm erworbene (oder für ihn erbaute) stattliche Villa, sondern ein einfaches trauliches Landhaus mit einem Gärtchen. Schmidts fanden wir bereits eingetroffen und das Reutersche Ehepaar auf unsere Ankunft vorbereitet. Der Empfang, der uns dort wurde, war der allerherzlichste.“ 53

Unbeschwerte Sommertage. Dennoch: Freytag empfand es so, als hätten die Schmidts seine Zeit "gemaust". Er hätte also Besseres zu tun gehabt, als die Zeit mit Julian und Elisabeth Schmidt zu verbringen? Die Schmidts wollten weiter in die Schweizz, wahrscheinlich zur Erholung: damals lagen Schweiz-Reisen "im Trend": Goethe war dorthin gereist, um die imposante Landschaft zu erleben; es gab im 19. Jahrhundert zahlreiche Monographien, in denen Dutzende von Schweizreisenden von ihren Erlebnissen berichteten. Auch Freytag war einige Jahre zuvor in der Schweiz gewesen und hatte Schmidt - wie oben dargestellt - einen langen Brief geschrieben.

Doch halten wir fest: es ist keine günstige Zeit in der Beziehung zwischen Schmidt und Freytag. Sorgen um die Zukunft der "Grenzboten" überwiegen bei Freytag. Er kann das Ehepaar Schmidt nicht in unbeschwerter Fröhlichkeit empfangen. Rückblickend aus dem Jahr 1864 schrieb Freytag an seinen Freund Salomon Hirzel: „Ich habe kein Glück mit meinen Grenzbotenleuten. Schmidt wurde unmöglich, und Busch kommt in denselben Fall. Und doch glaube ich nicht, dass ich eine andere wesentliche Schuld habe, als sie gewählt und nicht genug mit ihnen zusammengelebt zu haben. Das letztere war nicht zu vermeiden.“ 54 Das Lebens-Motiv taucht wieder auf: diesmal anders. Freytag erwägt, er habe nicht genug "Leben" investiert; zuvor hörten wir, dass er sich sehr wohl lebendig verbunden hatte. Hier wird ein schwieriges Thema berührt: Vertrauen und Verletzlichkeit. Die Grenze zwischen beiden ist sensibel, eine dünne Membran...

Schmidt wurde unmöglich - ein durch seine viele Interpretationen zulassende Offenheit fast abgründiger Satz. Von Schuld ist die Rede, von Wahl und (zu wenig) Zusammenleben. Vieles mischt sich hier, was zu einer Entfremdung zwischen Schmidt und Freytag geführt hat. Es scheint ein untergründig schleichender Prozess gewesen zu sein, etwas, was im Zusammen-Leben vielleicht verloren gegangen ist... Doch: was ist das Maß, mit dem man messen kann, ob man zu wenig zusammen gelebt hat oder nicht?

Aber das Verhältnis zwischen den alten Weggefährten klärt sich. Wenn die Lücken zwischen den Briefen Freytags im Nachlass Schmidts auch groß sind, bleibt unbestritten: es hat offenbar immer Briefe gegeben, die gewechselt wurden. Das "Leben" wurde weiter gelebt. Gemeinsames, durch identische Interessen Entstandenes, blieb Gegenstand der Kommunikation. Ganz wesentlich: die "Grenzboten". Man darf sagen: diese Zeitschrift war die "alte Liebe" Schmidts und Freytags.


Über die Schwierigkeiten mit Moritz Busch als Nachfolger Julian Schmidts bei den „Grenzboten“ hatte sich Gustav Freytag wiederholt in seinen Briefen an Salomon Hirzel geäußert; insbesondere die Unzuverlässigkeit Moritz Buschs in Bezug auf gemachte Zusagen sowie seine politisch nicht immer eindeutige Positionierung bereiteten Freytag Kummer und reizten seine Nerven. Mal war es Buschs Wankelmut, mal der Einfluss seiner Gattin, wodurch die Verhältnisse ins Schwanken kamen – und so waren Freytag mit „seinen“ Grenzboten“ manche Mühen auferlegt, um eine Kontinuität in die Redaktionsarbeit zu bringen. Als Alternative zu Moritz Busch hatte Freytag 1864 den Redakteur der „Weserzeitung“, Alexander Meyer, im Auge, welcher allerdings „in der letzten Zeit das Talent der Schmidtschen Zeitung“ (d.h., der „Berliner Allgemeinen Zeitung“) war. Meyer erschien Freytag „in seiner Art“ als „Genie, freilich ein brünetter Schmidt. Aber das größte journalistische Talent, das ich kenne.“ Freytag erwog, Meyer für die „Grenzboten“ anzuwerben, konnte sich aber nicht sofort entschließen zu handeln. 55 Auch die umfangreiche Korrespondenz, welche durch die Redaktionsangelegenheiten der „Grenzboten“ zu erledigen war, machte Freytag zu schaffen. Und immer wieder: die Klage über Buschs Unzuverlässigkeit: „Ein Artikel, den ich mir abgerungen u. zur Zeit gesandt, ist von Buschio wieder nicht abgeholt worden u. in der Buchhandlung liegen geblieben.“ Das erregte Ärger bei Freytag. 56 „Wegen Busch“ korrespondierte er im Sommer 1864 auch mit Julian Schmidt. Alexander Meyer hatte zuvor eine Mitarbeit bei den „Grenzboten“ abgelehnt – und nun plötzlich eröffnete sein Freund Julian Schmidt Freytag, er hätte „nicht übel Lust die Grenzb. zu übernehmen!" Aber "das muss ihm ausgeredet werden. Er will sie mir abkaufen. Wie mir scheint. Womit? Das Blatt ist jetzt gar nicht zu verkaufen.“ 57 Es ist an dieser Stelle nicht zu beurteilen, was zu dieser „Turbulenz“ um die „Grenzboten“ führte: wollte Schmidt, in Berlin tätig, seinem alten Weggenossen Freytag zu Hilfe kommen, indem er plötzlich überraschend anbot, die „Grenzboten“ zu übernehmen? Anscheinend verfügte er aber nicht über die Mittel dazu. Oder hatte die persönliche Begegnung der Ehepaare Schmidt und Freytag im Sommer 1864 in Siebleben bei Schmidt dazu geführt, sich dem alten Weggefährten gegenüber moralisch verpflichtet zu fühlen? Was auch immer: das Jahr 1864 war von seelischen Turbulenzen geprägt. Vieles schwankt hin und her: die "Grenzboten" sind Freytags Herzensangelegenheit, sein Umfeld teilt seine Sorgen offenbar nicht, empfindet nicht ein solches Maß an Verantwortung für die Zeitschrift wie er.

Nach der Ablehnung Alexander Meyers kam Max Jordan als Stellvertreter ins Gespräch, doch fand dieser nicht den Beifall Julian Schmidts: „Mit Jordans Stellvertretung ist er sehr unzufrieden, weiß aber niemand andern.“ 58 - (Hatte Schmidt mit zu entscheiden? Offenbar gab er zumindest Ratschläge, die ernst genommen wurden. Er hatte immer noch seine 1849 erworbenen Eigentumsanteile an den "Grenzboten", die Hälfte des "Kuranda-Anteile"; die andere Hälfte besaß Freytag. Die restlichen 50% gehörten dem Verleger Friedrich Wilhelm Grunow59). - Gustav Freytag erwog nun - er hörte offenbar auf das Urteil seines alten Weggenossen - , sich an Wilhelm Lang, den Redakteur des „Schwäbischen Merkur“, zu wenden. Doch schließlich kam es nach „langen und nicht durchweg erfreulichen Verhandlungen“ mit Busch und Schmidt zu einer Einigung, welche dem schwankenden Busch – bis zum Antritt Jordans – einige Pflichten auferlegte. 60 Wie hat man sich diesen Prozess der "Pflichtenauferlegung" für Busch, diese nicht durchweg erfreulichen Verhandlungen vorzustellen? Korrespondierte man intensiv - oder fand man sich gar persönlich zu einem Dreiergespräch zusammen? Vielleicht sogar im Sommer, als Schmidt in Siebleben auftauchte? Die Aufregungen mit den „Grenzboten“ lösten jedenfalls im September 1864 bei Freytag eine Nervenentzündung, von den Zähnen herrührend, aus, welche ihn einige Tage daran hinderte zu arbeiten. „Unter dem Schutz der Watte vermag ich wieder zu arbeiten. Die leidigen Grenzboten!“ 61

Am 2. Juli 1865 wandte sich Freytag wiederum (in einem dreiseitigen Brief) an Schmidt. Freytag schreibt aus Leipzig: "Liebster Schmidt." Er hatte gehofft, Schmidt könne selbst nach Leipzig kommen. Freytag hat schon die Zugverbindungen gesichtet und spekuliert, wann Schmidt eintreffen könnte. "Heut habe ich bei strömendem Regen die Hoffnung aufgegeben." Hoffnung, Erwartung, dass der andere kommen möge. Anschließend erläutert Freytag die Jahresabrechnung 1864 für die "Grenzboten"; Schmidt erhält einen Betrag von 1650 Talern, den Gewinn aus seinen Eigentumsanteilen: "Die Rechnung habe ich durchgesehen und nichts Auffallendes darin gefunden." 62 Das klingt vertraut. Rechnung geprüft und für gut befunden. Danach wird zu anderen Punkten übergegangen: Über Grunows kirchliche Einstellung beklagt sich Freytag. Grunow habe sich über gewisse Artikel in den "Grenzboten" beschwert, die nicht mit seiner religiösen Haltung übereinstimmten. Bevor er sich dann kurz zur politischen Lage äußert (Schleswig-Holstein-Frage), erwähnt Freytag eine Reparatur im Haus in Siebleben, "welche uns gezwungen hat auf Holzstützen zu laufen und zu schlafen." - Da ist er wieder, der Briefraum, in den sich assoziativ, sprunghaft die den Schreiber bewegenden Gedanken hinein ergießen. Der Empfänger wird daran keinen Anstoß nehmen... "Ich hoffe, Sie in diesem Jahr noch in Berlin zu sehen. Behalten Sie lieb Ihren treuen Freytag." Neue Wertschätzung. Die Krise während der Verlobungszeit Schmidts und dessen Wechsel nach Berlin scheint überwunden. Auch der Gemahlin Elisabeth werden "Huldigungen" übermittelt. 63

Der Brief vom 2. Juli ist deshalb interessant, weil er zeigt, dass bei allen Kümmernissen und Aufregungen um die "Grenzboten", die Freytag in dieser Zeit belasteten, die Beziehung zu Julian Schmidt sich nicht nur auf ökonomische und geschäftliche Dinge reduziert hat: die Prüfung der Eisenbahnverbindungen, dann ein Apercu aus dem Sieblebener Alltag, die Hoffnung auf ein Wiedersehen in Berlin - all dies zeigt, dass sich im Jahr 1865 wieder eine lebendige, auch Persönliches berührende Korrespondenz entwickelt hat. Vielleicht hat die Grenzboten-Krise von 1864 gezeigt, dass man sich aufeinander verlassen kann...

Wenn am 10. August 1865, nach einem in unangenehmer Stimmung mit Moritz Busch verbrachten Tag, Freytag an Salomon Hirzel schreibt: „Kaum bin ich mit Julian zu Ende, so fängt der Tanz mit Moritzen an“ 64 - so bezieht sich das auf die Probleme bei den "Grenzboten", in welche Schmidt zu jenem Zeitpunkt nicht involviert war.

Im Jahr 1867 weilte Gustav Freytag in Berlin, und zwar in der Funktion als thüringischer Abgeordneter des konstituierenden Reichstages des Norddeutschen Bundes. „Aus Erfurt wurde mir der Antrag gestellt, ich möge mich einer Wahl unterziehen.“ Obwohl Freytag sich nicht als Politiker zu wirken berufen fühlte, gab er doch dem Drängen seiner Freunde nach und kandidierte für die „Nationale Partei“. 65 Doch der Schriftsteller sah sich im Beruf des Politikers deplatziert. Freytags Reichstagstätigkeit währte nicht lange, und zwar nur von Ende Februar bis Mitte April des Jahres 1867. Dennoch empfand er seine Berliner Zeit als wertvoll. Er fühlte sich in der großen Stadt schnell heimisch und war belebt „durch den fast überreichen Verkehr mit alten und neuen Genossen.“ Namentlich wird in den „Erinnerungen“ nur ein gewisser von Normann genannt, welcher dem Kabinett des Kronprinzen vorstand. 66 In einem Brief vom 5. März 1867 an seinen Verleger Hirzel berichtete Freytag von einem Treffen mit „alten Freunden“ bei Theodor Mommsen; auch bei Moritz Haupt wurden im Rahmen einer kleinen Gesellschaft Bekanntschaften aufgefrischt, so mit Georg Beseler und Friedrich Adolf Trendelenburg. „Schmidt habe ich einmal vergebens aufgesucht.“ 67 Etwa 6 Wochen in Berlin - aber offenbar nur ein Besuch bei Julian Schmidt. Er war nicht zuhause.

Im Nachlass Julian Schmidts datiert der nächste Brief Gustav Freytags erst wieder aus dem Jahr 1869. Am 29. Dezember berichtete Freytag aus Leipzig über seine Arbeit an der Biographie Karl Mathys 68 und äußerte, er würde sich freuen, Schmidt in Leipzig begrüßen zu dürfen. 69

Fast ein Jahr später ein weiterer Brief. Vom 29. November 1870. Vier eng beschriebene Seiten; sogar auf dem Rand der letzten Seite finden sich Sätze in gedrängter kleiner Schrift. Der gesamte Brief ist in sauberer Handschrift verfasst, ein Ausdruck für die Konzentration bei dessen Abfassung. Es geht um "die Tragödie der Grenzboten", über die Julian Schmidt zu berichten Freytag "als eine Freundespflicht" auffasst. Freytag will sich in summa auf das Wesentlichste beziehen, "Ausführliches" will er "in Berlin erzählen." Auch dieser Brief ist ein beeindruckendes Dokument für die zwischen Freytag und Schmidt herrschende Vertrautheit, denn ausführlich stellt Freytag dem Berliner Freund die Konflikte und Probleme der "Grenzboten" dar, insbesondere die Schwierigkeiten, welche er mit dem Verleger Friedrich Wilhelm Grunow hat. Eigentlich sind das interne Mitteilungen, Vertrautes aus der Redaktion...
Freytag beklagt die unzureichende Bezahlung der Redakteure, die Tatsache, dass auch er selbst über längere Zeit kein Gehalt bekommen habe. Es geht, wie schon zuvor 70, um die religiösen Gefühle Grunows. Dieser hatte offenbar befürchtet, dass diese durch Grenzbotenartikel verletzt werden könnten. Freytag versuchte Grunow klar zu machen, dass die "Grenzboten" künftig religiöse Themen nicht aussparen könnten. Der Brief dokumentiert das zähe und verzweifelte Ringen Freytags mit Grunow um seit Jahren latente Fragen der inhaltlichen Ausrichtung der "Grenzboten" sowie die künftige Linie der Zeitschrift. Freytag erwägt, evtl. "ein neues Blatt" zu gründen ("hervorzurufen") oder Grunow seine Hälfte an den "Grenzboten" abzukaufen. (Dies würde aber wohl scheitern, da Freytag nach eigenen Worten nur 8.000 Taler bieten könnte). Zwar hatte Grunow zuvor ("als wir noch in ruhiger Zeit waren") wohl diesen Betrag als akzeptabel erachtet, dann aber offenbar von 8.500 Talern gesprochen: "Da war ich fertig mit ihm". Dann berichtet Freytag, wie er schließlich gemeinsam mit Jordan bei einer Versteigerungsaktion 13.200 Taler für die "Grenzboten" angeboten habe, von Grunow aber knapp - um 100 Reichstaler - überboten wurde. Julius von Eckardt, der auch Teilhaber an den "Grenzboten" war, kehrte für die Versteigerungsaktion eigens aus Paris zurück: die Versteigerung der "Grenzboten" ("düstere Abendszene in Jordans Zimmer mit zwei rechtskundigen Sekundanten") ist auch Eckardt in keiner guten Erinnerung geblieben. 71

Das war ein harter Einschnitt für Gustav Freytag, "ein Schlag" - zumal Grunow nach diesem Coup die Redaktion in fremde Hände legte. Zum Jahresende 1870 verließ Freytag die "Grenzboten". Eine bittere Konsequenz. Er muss es wie eine Vertreibung empfunden haben.

Als Freytag am 29.11. den erwähnten langen Brief an Schmidt schrieb, lagen zwei schwere Jahre hinter ihm. Die Zeit seit 1869 war von einem zunehmenden körperlich-geistigen Leiden seiner Ehefrau Emilie gekennzeichnet (sie starb am 13. Oktober 1875). Im Frühherbst 1870, in der Zeit vom 1.8.-10.9., hatte sich Freytag beim Frankreich-Feldzug auf Wunsch des Kronprinzen Friedrich, mit dem er befreundet war, dessen Hauptquartier angeschlossen und begleitete dieses als Kriegsberichterstatter. Stationen seiner „Reise“ während des deutsch-französischen Krieges waren Wörth, Sedan und Reims. In Reims nahm Freytag dann, des müßigen Umherziehens müde, Urlaub.

Müde. Die Krankheit der Gattin, der Feldzug, der Verlust der "Grenzboten" - Freytags Vertreibung. Glücklicherweise gründete Freytags Freund Hirzel eine neue, wöchentlich erscheinende Zeitschrift, die unter dem von Freytag erdachten Namen „Im neuen Reich“ ab dem 1.1.1871 erschien.

Alfred Dove wird am Ende des Briefes vom 29.11.1870 als neuer Redakteur erwähnt, der sich nach Freytags Meinung "sehr gut" in dieser Aufgabe zurecht finden werde. Der Brief schließt mit einer - überraschenden - Bitte Freytags an Schmidt: "Für dies Blatt nun möchte ich Sie, mein alter Schmidt, werben. Kommen Sie wieder zu uns... Es wäre für die Literatur der Deutschen ein Vorteil, wenn Ihre Feder sich wieder in strenger und stolzer Kritik heilsam erweise... Überlegen Sie sich das und schreiben Sie mir." 72
Julian Schmidt blieb aber in Berlin. Er wollte nicht ins Neue Reich.

 

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