Die Leipziger Jahre (1848-1861)

Die Begegnung mit Julian Schmidt fiel für Gustav Freytag in eine Zeit, die durch persönliche und politische Umschwünge und Krisen gekennzeichnet war. Die Ereignisse der Jahre 1847 und 1848 müssen hier im Zusammenhang gesehen werden.  Zu Beginn des Jahres 1847 siedelte Freytag nach Dresden über. Dort heiratete er die wohlhabende Schlesierin Emilie Scholz, geschiedene Gräfin Dyhrn. Die Gräfin hatte sich von ihrem Mann getrennt und war dann Gustav Freytag nach Dresden gefolgt. Ein weiterer Einschnitt im Leben Gustav Freytags war der Tod seines 72-jährigen Vaters im Jahr 1848. Zudem führten die revolutionären Ereignisse desselben Jahres in Mitteleuropa zu politischer Unruhe und wirkten hinein bis in die persönlichen Beziehungen des Grenzboten-Kreises.

Im Herbst des Jahres 1847 hielt sich Freytag in Leipzig auf, um sein Theaterstück "Valentine" aufzuführen. Im Herbst 1848 siedelte Freytag, nachdem er Julian Schmidt kennengelernt und sich zur Mitarbeit bei den „Grenzboten“ entschieden hatte, nach Leipzig über. Aus einem Brief an seinen Freund Theodor Molinari erfährt man, wo das Ehepaar Freytag später in Leipzig wohnte, und zwar in der „Kreuzstraße No. 8, parterre“ – dort, so hoffte Freytag, würde Molinari ihn besuchen. 3

Zu Freytags Freunden gehörten in dieser Zeit auch Theodor Mommsen, Maximilian Wolfgang Duncker, Karl Friedrich Samwer, Ernst Alfred Christian von Stockmar, Franz Hermann Schulze-Delitzsch, Rudolf Friedrich Moritz Haupt sowie der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm (Friedrich III., welcher im sog. „Dreikaiserjahr“ 1888 starb, kurze Zeit nachdem er die Nachfolge Wilhelms I. angetreten hatte). In diesem Kontext lernte Freytag Julius Fröbel und Arnold Ruge kennen. Auch mit Ludwig Tieck und Eduard Devrient stand er in Verbindung.

Der Kontakt zwischen Freytag und Schmidt wurde durch Ruge vermittelt - der Anlass ist unklar. Obwohl Freytag in Leipzig einen neuen Menschenkreis kennen lernte, schien er sich innerlich nicht in der neuen Umgebung verankern zu können. Ruge und Fröbel, zwei politisch orientierte Schriftsteller, standen zwar mit Freytag in persönlichem Kontakt, doch diesen, bis dahin politisch eher indifferent, traf der revolutionäre politische Umschwung des Jahres 1848 wohl eher unvorbereitet. 4 Dennoch: preußische Staatsgesinnung und ein inniges Nationalgefühl waren Grundlagen von Gustav Freytags Wesen. Erschüttert war er von „Preußens Missgeschick, Friedrich Wilhelms IV. politischem Versagen“. 5

Das Jahr 1848 – Gustav Freytag beging am 13. Juli seinen 32. Geburtstag – wurde bedeutsam für ihn, weil sich persönliche und historische Umwälzungen miteinander verschränkten und zu einer Sinnkrise führten. Selbst die bisher erfolgreiche literarische Tätigkeit vermittelte ihm keinen Halt mehr: „Da kam das Jahr 1848 und stellte Aufgaben, die größer waren als alle Eroberungen auf der deutschen Bühne ... Ich fühlte mich in dieser Zeit zu Dresden vereinsamt, meine Verleger Ruge und Fröbel wurden mir schnell entfremdet, und ich sah umher, ob ich irgendwo Gelegenheit finden könnte, mich in meiner Art tätig zu erweisen." 6

Die Begegnung mit Julian Schmidt fiel in die ersten Monate des Jahres 1848. In seiner Autobiographie äußert sich Freytag über Schmidt in einem warmen, verehrenden, ja liebevollen Ton. Keine andere Person wird mit solcher Innigkeit beschrieben, was durch Zitate im Folgenden noch deutlich werden wird. Auch fällt auf, dass Freytag keine der von ihm erwähnten Personen in seiner Lebensbeschreibung nur bei ihrem Vornamen nennt, Schmidt jedoch wird mehrfach „Julian“ genannt.

Im 9. Kapitel seiner Erinnerungen beschreibt Freytag seine erste Begegnung mit Julian Schmidt wie folgt: „Es war in den ersten Monaten des Jahres 1848, als ich bei einem Besuch in Leipzig einem kleinen Herrn gegenüber saß, dem hübsche blonde Locken ein rundliches, rosiges Kindergesicht einfassten, und der hinter großen Brillengläsern starr und schweigsam auf seine Umgebung sah. Es wurde mir gesagt, dass dies Julian Schmidt, der Verfasser des gelehrten Werkes „Geschichte der Romantik“ sei. Längere Zeit hörte er schweigend dem politischen Gespräch mit Bekannten zu, plötzlich aber, als ihm irgend eine Behauptung missfiel, brach der Strom der Rede aus seinem Innern, wie schäumender Wein aus entkorkter Flasche. Schnell und kräftig flossen die Worte im scharfen ostpreußischen Dialekt. Was er sagte war so klar, energisch und warm, dass alle verwundert zuhörten, und dass die Unterhaltung nicht wieder in Fluss kam, auch als er geendet hatte und sich wieder schweigend hinter seine Brille zurückzog. Darauf gerieten wir beide in ein Gespräch, das lange dauerte, und es ergab sich eine solche Übereinstimmung in den Ansichten, nicht nur über Preußen und die deutsche Unordnung, auch über verkehrte literarische Richtungen der Zeit, dass ich in großer Hochachtung von ihm schied. Seitdem suchten wir einander, so oft sich die Gelegenheit bot.“ 7

Seelische Offenheit und ein liebevoller Blick enthüllten Freytag die Polarität des Wesens des zwei Jahre jüngeren Julian Schmidt: einerseits dessen kindliche, sympathische Erscheinung, die sich hinter einer Brille in einem starren, schweigsamen Blick konzentrierte; andererseits die lebendige, energische und klare Rede, die alle anderen zum Schweigen brachte. Diese Polarität mag in Freytag die Empfindung ausgelöst haben, einem Menschen gegenüberzustehen, dem er sich einerseits in väterlicher Zuneigung öffnen konnte, bei dem er andererseits aber spürte, dass dieser ihm an gedanklicher Klarheit, intellektueller Schärfe und Entschlossenheit ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war: „energisch und warm“ sprach Schmidt – Freytag schien in ihm eine in sich ruhende Persönlichkeit gesehen zu haben.

Das Interesse an seinem Gegenüber muss aber auch bei Schmidt geweckt worden sein, denn sonst hätte er sicher nicht ein langes Gespräch mit Freytag geführt. Was genau Schmidt in Freytag „sah“, wird hier nicht deutlich, aber Fakt ist, dass beide Männer (so Freytag) seitdem „einander suchten, so oft sich die Gelegenheit bot.“ Nach außen hin fokussierte sich diese Übereinstimmung in einer neuen gemeinsamen Aufgabe, resultierend aus einer gemeinsamen politischen Überzeugung. In der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ heißt es: "In dieser patriotischen Trauer kam er bei einer Begegnung in Leipzig mit Julian Schmidt überein, die Grenzboten ... gemeinschaftlich zu erwerben und zu leiten. Es galt deren Verwandlung in ein preußisch-deutsch gesinntes Blatt, das die verirrte öffentliche Meinung zurechtweisen und zugleich die Literatur von romantischen Träumen und jungdeutscher Verzerrung zur lebendigen Wahrheit des Zeitalters hinüberlenken sollte. “ 8

Eng verbunden mit Julian Schmidt war damals Jakob Kaufmann. 9 Über ihn und Schmidt äußerte sich Freytag folgendermaßen: „Als ich ihn kennen lernte, war er bereits in guter Kameradschaft mit Julian Schmidt. Und die beiden Gesellen saßen bei der Arbeit und abends am Schenktisch in der aufgeregten Sachsenstadt nebeneinander wie zwei kluge Käuzlein unter dem schwirrenden und schreienden Vogelvolk.“ 10 Auch hier fällt – wie bei der soeben zitierten Schilderung Schmidts – die „Augenmetaphorik“ auf: als „Käuzlein“ werden Schmidt und Kaufmann bezeichnet, die mit wachem Blick für ihre Umgebung in der schwirrenden Menge sitzen, aber von deren Unruhe unberührt blieben. Zudem ist der Kauz als Nachtvogel ein Wesen, das für dem Tagesbewusstsein verborgene Vorgänge eine besondere Aufmerksamkeit hat.

Der Beginn der gemeinsamen Außenwirksamkeit Schmidts und Freytags fiel in die Mitte des Jahres 1848: „Als ich einige Monate später mit Schmidt zusammentraf, machte er mir den Vorschlag, ich möge den Eigentumsanteil, welchen Kuranda an den Grenzboten hatte, zu übernehmen. Da dies ganz zu dem stimmte, was ich in dieser Zeit für mich wünschte, so erklärte ich mich sogleich bereit, wenn nämlich Schmidt mein Partner und Kollege werden wolle. Er schlug ein und wir erwarben zu gleichen Teilen Eigentumsrecht an dem Blatt.“ Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass erstens Schmidt den Vorschlag machte, die „Grenzboten“ gemeinsam zu leiten und dass zweitens Freytag die Bereitschaft seiner Mitwirkung davon abhängig machte, „wenn Schmidt ... Partner und Kollege werden wolle.“ Hier zeigt sich, dass Schmidt offenbar von beiden derjenige war, der größere Sicherheit ausstrahlte und dass Freytag in seiner Lebenslage diese Sicherheit des „Käuzleins“ brauchte, um neuen Boden unter den Füßen zu gewinnen. So begann also am 1. Juli 1848 das gemeinsame journalistische Unternehmen „Die Grenzboten“.

Im Herbst 1848 siedelte Freytag nach Leipzig über – Julian Schmidt wohnte zunächst bei ihm. Offenbar lag die Wohnung in der Rosentalgasse 2.12 In Leipzig lernte Freytag edle Freunde kennen, so Salomon Hirzel, der später sein treuer Verleger wurde, sodann die Altertumsforscher Moriz Haupt, Jahn und Theodor Mommsen (von Mommsen erschien 1854/56 die „Römische Geschichte“, die 1902 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde).

Gustav Freytags Lebenskrise zeigte sich unmittelbar nach dem Wohnortwechsel, indem er nach seiner Ankunft in Leipzig erkrankte.13 Berufliche Anspannungen mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben, denn die journalistische Arbeit stellte vor dem damaligen Zeithintergrund eine besondere Herausforderung für die „Grenzboten“ dar. Gustav Freytag schrieb in seinen „Lebenserinnerungen“ rückblickend aus dem Jahr 1887 über die besonderen Schwierigkeiten des Journalismus im Allgemeinen: „Vom 1. Juli 1848 begann die selbständige Tätigkeit der neuen Redaktion. Einem jüngeren Geschlecht mag es nicht leicht sein, sich in die journalistischen Zustände jener Zeit hineinzudenken und diesen ersten Flugversuchen der befreiten Presse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gab damals keine erprobten Staatsmänner mit festen Zielpunkten und keine maßgebenden Politiker, ja es gab nicht einmal feste politische Parteien. Die Regierenden folgten mit großer Willensschwäche der Strömung, und standen neuem Verlangen der aufgeregten Massen ratlos gegenüber. Die konservativen Kräfte in der Nation schienen geschwunden, das nationale Selbstgefühl war schwach; die liberalen Forderungen gingen weit auseinander, und der süddeutsche Liberalismus, auch der Gemäßigten, krankte an dem Übelstand, dass ihm die sämtlichen Staatsregierungen, vorab Preußen, für Feinde der deutschen Zukunft galten. Wärme für den eigenen Staatsbau bestand im Grunde nur in Preußen, und war auch dort zur Zeit ein verschüchtertes Gefühl. In der Nationalversammlung zu Frankfurt aber begannen erst die großen dialektischen Prozesse, welche zu dem Verfassungsentwurf von 1849 leiteten, auch dort bildete sich erst allmählich unter dem Zwang der Tatsachen das Parteileben und eine Majorität für die berechtigten nationalen Forderungen. Wer in solcher Zeit als Journalist über Politik schrieb, hatte keinen anderen Anhalt, als das Idealbild, das er sich selbst von einer wünschenswerten Zukunft des Vaterlandes gemacht hatte, und keinen anderen Maßstab für sein Urteil, als die Ansichten, die ihm zufällige Eindrücke seines eigenen Lebens vermittelt hatten; Sprache, Stil und die notwendige journalistische Taktik, alles was er hasste und was er liebte, musste ihm der eigene Charakter geben. Er war frei wie der Vogel in der Luft, ohne Führer, ohne Partei, ohne die Erfahrung und ohne die Bescheidenheit, welche die Gewöhnung einer Nation an parlamentarische Tätigkeit dem einzelnen zuteilt. Das war eine wundervolle Lehrzeit des deutschen Journalismus, und es ist kein Zufall, dass aus dem Jahr 1848 viele tüchtige Redakteure unserer größeren politischen Zeitungen erwachsen sind, klug, welterfahren, gewandt, von sicherem Urteil in großen Fragen, denen ein jüngerer Nachwuchs nicht ebenso reichlich gekommen ist.“ 14

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die „Krise“ der Jahre 1847/48, die Gustav Freytag erlebte, überwunden werden konnte durch eine Verankerung in einer ideellen Überzeugung und persönliche Charakterstärke, gestützt auf Julian Schmidt - und natürlich die anderen Männer des „Grenzboten-Kreises“. Dass Schmidt in diesen Turbulenzen der Zeit eine feste Bezugsgröße für Freytag gewesen ist, erhellt aus den sich unmittelbar anschließenden Aussagen über dessen Persönlichkeit: Freytag äußert sich in der oben bereits erwähnten vertrauten Weise über Schmidt, indem er ihn nur bei seinem Vornamen nennt. Zudem dokumentiert sich im Folgenden die neu gewonnene Lebenssicherheit Freytags, indem er im Rahmen der journalistischen Tätigkeit oft von „wir“ spricht (und dabei Schmidt und Kaufmann mit bedenkt). Beachtenswert ist auch Julian Schmidts konsequenter Idealismus, der ihn über existenzielle Sorgen und materielle Einschränkungen hinweg trug: „Mit frohem Herzen gingen auch die Redakteure der kleinen Grenzboten an ihr Werk. Das Arbeitsgebiet war nicht fest verteilt, doch besorgte Julian in der Regel die deutschen Artikel, ich die österreichischen und das Ausland, er außerdem fast die ganze Literatur und Kunst mit Ausnahme des Theaters, dazu, solange ich noch in Dresden wohnte, mit Kaufmann die Redaktion der einlaufenden Mitteilungen. Und wir richteten offene Briefe, wie damals Zeitgeschmack war, an die verschiedenen Staatsmänner und Parteiführer predigten ihnen schonungslos Tugend und Weisheit ohne nähere Kenntnis der Personen und der Verhältnisse, durch welche sie beschränkt wurden. Wir gaben dem Österreicher Pillersdorf den verständigen Rat, sich von Deutschland zu trennen, auch Italien aufzugeben, und machten ihn aufmerksam, dass es wünschenswert sei, Bosnien zu nehmen und die Völker des unteren Donaulands in einen großen Bundesstaat zu vereinigen. Wir verurteilten die Demokratie der Straße mit großer Verachtung, und benutzten jede Gelegenheit den aufgeregten Deutschen zu sagen, dass Preußen noch vorhanden und unter allen Umständen unentbehrlich sei... In dieser Zeit waren der starke Menschenverstand Julians, seine Tapferkeit, die souveräne Verachtung des leeren Scheines und der Phrasen, und daneben seine warme Anerkennung mannhafter Selbständigkeit, wo diese einmal bemerkbar wurde, eine wahre Erquickung. Im Herbst 1848 zog ich nach Leipzig ... und verfiel bald einer schweren Krankheit, und er hatte unterdes die ganze Sorge der Redaktion zu tragen und zwar in ungünstiger Zeit, denn das Blatt, welches den Österreichern nicht mehr bequem war, verlor im Süden seinen Einfluss und hatte solchen in Deutschland erst zu gewinnen. Dieser plötzliche Wechsel der Abonnenten, der gefährlichste Umstand für eine Zeitschrift, machte das Jahr 1848 zu dem mühevollsten, welches die Redaktion durchzumachen hatte, und ich vermute, dass Julian, der seine ganze Zukunft dem kleinen Fahrzeug anvertraut hatte, zuweilen mit stiller Sorge bedrückt war; er hat sie nie gezeigt, war immer frisch, heiter und tapfer bei der Arbeit, obwohl ihm das Blatt damals keinen anderen Ertrag brachte als das geringe Honorar, welches er wie jeder andere Korrespondent bezog.
Unterdes lebten wir uns zu Leipzig in einem größeren Kreise guter Bekannten ein bei friedlichem Abendverkehr. Zunächst natürlich mit solchen, welche der Zeitschrift nahe standen und Beiträge lieferten. Außer Kaufmann wurde ein werter Freund Constantin Rößler, der damals als Privatgelehrter in Leipzig weilte... Die Zeit war schlecht, dennoch fehlte dem Kreise der frohe Übermut nicht.“ 15

Die privaten Bindungen unter den „Grenzboten“ waren recht eng: 1849/50 fungierten Schmidt und Kaufmann als Brautführer bei der Hochzeit Mitarbeiters Wilhelm Hamm, welcher die Tochter aus einem Pfarrhaus nahe Leipzig zum Altar führte. „Beide standen würdig am Altar hinter der Braut... Nach Tisch traten die Grenzboten16 als die heiligen drei Könige vor das neue Ehepaar und sagten Goethes Gedicht mit den nötigen Änderungen her. Schmidt zog hinter seinen runden Brillengläsern als der weise Kaspar auf, die blonden Löckchen mit weißem Mehl gepudert, und Kaufmann musste sich durch gebrannten Kork in einen schwarzen Mohrenprinzen umwandeln lassen."17

Eine Zäsur stellte offenbar der Zeitpunkt um 1851 dar. Das Interesse an politischen Angelegenheiten trat in der Öffentlichkeit zurück, was bei den „Grenzboten“, initiiert durch Julian Schmidt, zu einer neuen journalistischen Ausrichtung führte. Das öffentliche Klima um das Jahr 1851 war – laut Freytag – gekennzeichnet dadurch, dass „alle Gegensätze scharf gegeneinander schlugen.“ Schmidt, der zugreifendere Charakter, stürzte sich in dieses von Gegensätzen geprägte Klima der Jahrhundertmitte: „Als die Politik nicht mehr das ganze Interesse der Leser der Grenzboten in Anspruch nahm, begann Schmidt literarische Artikel gegen die Jungdeutschen und Romantiker zu verfassen. Seine energische Tätigkeit nach dieser Richtung schuf ihm und dem Blatt viele Gegner, unter denen Gutzkow der erbittertste war, aber sie ist wohl wert, dass man mit Anerkennung daran zurück denke. Es war damals die Zeit, wo alle Gegensätze scharf gegeneinander schlugen und Schmidt war nicht der Mann, in seinem Feuereifer jedes Wort vorsichtig abzuwägen. Doch der letzte Grund seines Unwillens war immer ehrenwert, es war der Hass gegen das Gemachte und Gleißende, gegen ungesunde Weichlichkeit und gegen eine anspruchsvolle Schönseligkeit, welche an den Grundlagen unseres nationalen Gedeihens, an Zucht und Sitte und deutschem Pflichtgefühl rüttelte mit einem Hochmut, dessen letzte Ursache Schwäche des Talents oder gar des Charakters war. Jetzt, wo diese Schwächen und Fehler überwunden oder mit anderen vertauscht sind, wird uns eine unbefangene Beurteilung leichter. Damals galt es, das anspruchsvolle, noch mächtige Schädliche zu beseitigen. Es ist auch nicht richtig, dass durch die Bewegung des Jahres 1848 und deren Folgen bereits eine Besserung bewirkt war, und dass es absterbende Richtungen waren, welchen die Grenzboten den Krieg erklärten. Denn indem Schmidt verurteilte, was in unserer Literatur krank war, wies er auch unablässig auf die Heilmittel hin und wurde dadurch in Wahrheit ein guter Lehrer für die Jüngeren, welche falschen Vorbildern, die in unbekämpftem Ansehen stehen, zu folgen bereit sind. Ihn selbst haben die Gegenangriffe der Gekränkten, an denen es nicht fehlte, vielleicht einmal geärgert, nie beirrt“. 18

Freytag schien diese kämpferische Seite zu fehlen: er hat gewisse Spannungen und Konflikte wahrscheinlich eher ruhiger mit sich selbst abgehandelt. Dies kann man daraus schließen, dass Freytag sich auf ärztliches Anraten im Juli 1851 plötzlich veranlasst sah, aufgrund seiner gesundheitlichen Situation ein Haus in Siebleben zu erwerben, um dort die Sommermonate zu verbringen. So teilten sich seit 1851 Schmidt und Freytag im halbjährlichen Wechsel die Redaktionsleitung in Leipzig.

Über Julian Schmidts Charakter und Denkweise erfährt der Leser des 9. Kapitels der Lebenserinnerungen Freytags fast mehr als über seine eigene; doch mag die Darstellung der Tätigkeiten und Eigenschaften des Freundes aus dieser Zeit widerspiegeln, was Freytag vielleicht gesucht, aber sicherlich, was ihm Halt gegeben hat. Über Julian Schmidt heißt es weiter: „Und doch, obgleich er als Kritiker dafür galt, dass ihm Anerkennung schwer wurde, stand er nichts weniger als kalt dem geschaffenen Dichterwerke gegenüber. Er hatte an allem wohl Gelungenen eine tief innige Freude und behielt vor echter Poesie die Wärme und Begeisterung eines Jünglings bis in sein höheres Alter. Vor allem fesselte ihn originelle Zeichnung der Charaktere, nächstdem die Grazie in Schilderung und Sprache. Die Darstellungsweise der englischen Dichter war ganz nach seinem Herzen, den Zauber der wundervollen Färbung bei Dickens empfand er so voll, wie nur ein Engländer jener Zeit, und für die stärkeren Talente der Franzosen, z.B. für Balzac, fühlte er weit größere Sympathie als sein Mitredakteur. Wo er hohe Intentionen fand, wurde er auch durch große Mängel in der Ausführung nicht erkältet. Er ließ nicht ab, mit dem Schwulst und der Neigung zum Hässlichen bei Hebbel abzurechnen, aber obgleich ihn in jedem neuen Werk desselben vieles verletzte, so blieb ihm doch das Bedürfnis dieses Talentes, Großartiges darzustellen, sehr ehrenwert. Wo er vollends die Gabe erkannte, gesunde Menschen zu schildern, wurde er ein freundlicher Ratgeber. Er war es, der in der Presse zuerst das kräftige Talent Otto Ludwigs verkündete, und vollends Fritz Reuter hat keinen wärmeren und besseren Beurteiler gefunden als ihn. In gehobener Stimmung und mit schöner Herzensfreude trug er die Gestalten und Situationen jeder neuen Geschichte des wackeren Mannes in sich herum und wurde nicht müde, sie in heiterer Gesellschaft zu rühmen. In derselben bereitwilligen Anerkennung eigenartiger Schilderung von Charakteren und Zuständen wurde er auch später ein Bewunderer und Freund Iwan Turgenjews. - Fand er aber in einer Dichternatur nicht viel von dem, was ihn kräftig anzog, so ging er in seiner Kritik an den Grenzen solcher poetischen Begabung herum, er bornierte sich gewissermaßen das, was ihm fremdartig blieb, und weil er dann, um seine Kälte zu rechtfertigen, mehr von den Schwächen als von dem Guten des Werkes sprach, so machte seine Besprechung wohl einmal den Eindruck zu großer Strenge. Aber er selbst war, wo er später zu besserer Würdigung kam, sogleich bereit und eifrig, sein Urteil zu ändern. Denn immer urteilte er ehrlich seiner eigenen Natur gemäß und ehrlich gegen die Kunst, nur um der guten Sache willen, und immer vom Standpunkt eines tüchtigen Mannes und eines wackeren Deutschen. Und diese Eigenschaft hat ihm, dem Kritiker, bei der jüngeren Generation auch zuerst seine Bedeutung verschafft, denn bei einer Kritik sucht der Leser geradeso wie bei der Geschichtsschreibung nicht nur geistvolles Urteil, sondern über allem in dem Beurteilenden einen Mann, in dessen Charakter er Vertrauen setzen kann. Langjährige fortgesetzte Beschäftigung mit Kritik, zumal mit ästhetischer, bereitet auch dem Beurteilenden Gefahren, leicht wird die Fähigkeit gemindert, Neues warm aufzunehmen, eine gewisse Sättigung macht anspruchsvoll, und die Gewöhnung, nach festgewordenen Ansichten zu urteilen, bedroht mit Einseitigkeit. Deshalb ist besonders bezeichnend für die Tüchtigkeit Julian Schmidts, dass er mit den Jahren nicht absprechender und mürrischer, sondern milder, vielseitiger und anerkennender wurde“. 19

Allmählich etablierten sich die „Grenzboten“; doch erforderte dies eine langwierige, mehr als zehn Jahre andauernde Mühe und Arbeit. Freytag hebt auch hier Schmidts hohen Anteil hervor. In der Darstellung mischen sich sachliche und persönliche Anerkennung: „Das Hauptverdienst aber dieses Erfolges in den dreizehn ersten Jahren herben Kampfes gegen eine öde Reaktion und gegen die Mutlosigkeit und Zerfahrenheit im Volke kommt Julian Schmidt zu, der Regelmäßigkeit seines Fleißes, seiner festen Vaterlandsliebe, dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Tüchtigkeit der Nation und zu der Kraft des preußischen Staats, und seiner tapferen Rücksichtslosigkeit. Er war ein schneller Arbeiter, pünktlich im Abliefern des Manuskriptes, Freude und Trost der Setzer; die Gedanken strömten ihm voll und gleichmäßig aus der Feder, auf den Seiten, die er von oben bis unten zu beschreiben liebte, fand sich selten ein Wort korrigiert. Die Rückseite seiner Konzepte war gewöhnlich mit algebraischen Formeln beschrieben, solches Rechnen trieb er unablässig als Privatvergnügen zur Erholung.“20

Das Verhältnis der beiden Redakteure Schmidt und Freytag war durch Vertrauen und Toleranz geprägt. Die mit dem halbjährlichen Redaktionswechsel verbundenen verschiedenen Arbeitsweisen bildeten kein Problem. Auch in diesem Zusammenhang werden wieder Schmidts Stärken betont: „Mit der Redaktion wechselten wir nach den ersten Semestern halbjährig und da ich einen Teil des Sommers auf dem Lande zubrachte, so machte sich's, dass Schmidt im Sommer, ich im Winter die Redaktionsgeschäfte besorgte, dadurch erhielt jeder von beiden für ein halbes Jahr Muße zu größerer Arbeit. Doch war bei diesem Wechsel nicht zu vermeiden, dass Verschiedenheiten in der Behandlung der Eingänge bemerkbar wurden. Schmidt hatte z.B. eine souveräne Stimmung gegenüber dem Mannigfaltigen, wodurch ein Blatt den Lesern anmutig zu werden sucht, und besserte ungern an dem mangelhaften Stil solcher Artikel, welche aus der Fremde kamen und wegen des zeitgemäßen Stoffes nicht zu verachten waren; ja er schrieb lieber ein halbes Heft selbst, als dass er verstruwelten Gedanken und Sätzen den redaktionellen Bürstenstrich vergönnte.“ 21

In diesen ersten Grenzbotenzeiten wurde ein reger Gedankenaustausch gepflegt: neben den redaktionellen Besprechungen und Themenplanungen für die Grenzboten-Hefte wurde auch in schriftlicher Form (meist gingen in dieser Zeit die Briefe zwischen Freytags Sieblebener Idylle und Leipzig hin und her) zu verschiedensten Angelegenheiten Stellung bezogen: so diskutierte man über aktuelle Gesetzentwürfe des Reichstages, über post-mortem-Schutzfristen für Schriftsteller, die Angelegenheiten der "Grenzboten" wurden erörtert... Aber immer auch Persönliches. Freytag an Schmidt: "Bei mir zu Hause gehts wieder leidlich, Genesung nach einem Nervenfieber geht freilich langsamen Schritt und meine Frau hat noch das Bedürfnis nach der Stille und nur geringer Zerstreuung. Ich hoffe auf das Frühjahr." 22 Später, im Mai 1852, wieder ein langer vierseitiger Brief aus Siebleben: Thema ist der Verleger Grunow, der Freytag keine Grenzboten-Hefte schickte (obwohl das besprochen war), sodass dieser nicht weiß, "was in der Welt vorgeht." Freytag schreibt über das Wetter in Siebleben (Gewitter und Hagel), vom "Geblühe und Gesumse unter den Bäumen" im Garten und den ungeheuren Scharen von Maikäfern, die überall umher schwirren. Freytag erzählt Julian Schmidt vom Fest des Maibaumsetzens im Ort - und zwar ausführlich: "In etwa 4 Wochen, nämlich zu Johanni, wird der gesetzte Baum wieder umgeworfen, da erscheint die Jugend des Dorfes in dramatischem Aufzuge mit allerlei - leider tölpelhaften - Verkleidungen" und vor dem gestürzten Baum wird eine "haarsträubende Musik" dargeboten. Das alljährliche, traditionelle Maibaumritual wird Schmidt auf einer weiteren halben Briefseite plastisch dargestellt, um an den Freund schließlich die Einladung auszusprechen, zu Johanni in Siebleben zu erscheinen: "... dass Sie zu diesem Fest hier unentbehrlich sind. Richten Sie sich so ein, dass Sie um diese Zeit herkommen können. Sie werden einen Teil von Siebleben betrunken sehen, gegenwärtig nicht die schlechteste Methode eines biedern Germanen, sich lebhaft zu erweisen." Der Brief handelt dann wieder von Grenzbotenangelegenheiten und schließt mit warmen Grüßen: "Meine Frau grüßt Sie herzlich und lässt Ihnen sagen, Sie möchten nur nicht zu viel von ihrem Garten erwarten, damit Sie nicht enttäuscht werden." 23 Man sieht an einem solchen Brief die Vertrautheit des Umgangs, es wird über Persönliches und Berufliches gesprochen, Gedankensprünge werden nicht gescheut, weil man weiß, dass der "Briefraum" ein geschützter ist. Hier müssen nicht stringente Gliederung und thematische Ordnung herrschen. Man schreibt so wie es kommt.

Etwa in der Zeit zwischen 1851 und 1855 muss Gustav Freytag eine längere Reise in die Schweiz unternommen haben: ein siebenseitiger undatierter Brief Freytags im Nachlass Julian Schmidts wirft noch einmal ein prägnantes Licht auf das freundschaftlich geprägte Verhältnis beider Männer. Auf diesen Brief soll daher an dieser Stelle ausführlicher eingegangen werden: 24

Der Brief beginnt mit der Anrede „Mein allerliebster Schmidt“ und schließt mit den Worten „Sie aber sollen lieb behalten Ihren Freytag“, wodurch die persönliche Verbundenheit beider Männer deutlich wird. Freytag hatte ursprünglich geplant, Julian Schmidt eine Art „Tagebuch“ seiner Schweiz-Reise zu schicken, was aber durch schlechte Wetterverhältnisse („Sturm, Regen und Nebel“) einerseits sowie dadurch verhindert wurde, dass überraschend Freytags Bruder Reinhold und dessen Gattin die Reisegesellschaft vergrößerten und der ganzen Unternehmung einen mehr familiären Charakter gaben. So erklärt Freytag das Zustandekommen des langen Briefes. 25 Stationen der Reise waren u.a. Rigi, Interlaken, das Berner Oberland und Solothurn. Freytag schildert nun recht humorvoll, dass die „alte Schweiz“ angenehme Landschaften besitze, deren Nachteil nur leider darin bestehe, dass diese bergig seien und man nicht „zwischen“ diesen Gebirgen reisen könne, sondern sich auf schmalen Saumpfaden, Fußsteigen und 3-6 Fuß breiten Steintreppen, welche an gefährlichen Abgründen vorbeiführen („natürlich ohne Geländer“), sich fortbewegen müsse. In lebendiger Weise beschreibt nun Freytag, wie er sich auf beschwerlichen Wegen auf einem Maultier durch die Schweizer Bergwelt bewegte. Dieses „hartnäckige“ Tier sei mit besonderer Vorliebe „gefühllos stundenlang… an der äußersten Kante des Abgrunds“ entlang getaumelt. Dies bezeichnet Freytag dann scherzhaft als „Spazierritt“. Die Belohnung für einen solchen Ritt bestehe darin, dass man auf Wolken herab blicken oder vielleicht jemandem in der Tiefe auf den Kopf spucken könne. „Glauben Sie mir, Schmidt, es ist hart, unter solchen Umständen Natur bewundern zu müssen. Da mir das Bergsteigen nicht gut bekommen wollte, bin ich durch das ganze Berner Oberland geritten… Meistenteils aber musste ich absteigen (z.B. bei einer Tour über den Grindelwaldgletscher) und wurde genötigt an einem schroffen Felsen entlang zu kriechen, … bis ich an eine Eisspalte kam, die ungefähr 10 Fuß breit war und diesmal glücklicherweise nur ca. 600 Fuß tief. Darüber war ein vier Zoll breites Brett gelegt, man hätte ebenso gut auf einem Seil herüberlaufen können, und als das überstanden war, stand man auf einer langen glatten Eiskante und auf beiden Seiten wieder Eisspalten und ein Schafhirt musste mit seiner Hacke erst Fußstapfen längs dem Eisrücken schlagen und unterdes musste man selber sowohl balancieren als ihn am Hosengurt festhalten. Als ich zu dieser Expedition verführt wurde, kündigte mir meine Frau zuerst die Freundschaft auf und kam gleich darauf verzweifelt hinter mir her geklettert… Kurz, man kann sagen, die Natur wird einem recht systematisch durch das ganze Bergsystem verbittert.“ Auch über die Gasthöfe beklagte sich Freytag: es gab ordinären Kaffee (Brasil) mit dünner Milch (statt Sahne). Ein dann noch daneben aufgestellter Honigtopf trieb den Preis für das Frühstück auf stolze 12-16 Franken. Eine Flasche Landwein (trinkbar) kostete 3 Franken, ein gewöhnlicher Bordeaux 24 Franken („das grenzt an Diebstahl“). Die Zimmer in den Gasthöfen waren „schlecht und ohne Comfort, die Bedienung sehr mangelhaft.“ Doch trotz aller Ärgernisse und Hindernisse, so bilanzierte Freytag, waren die Eindrücke, die er in der Schweiz sammeln durfte, „ein guter Erwerb für immer.“ Auf der Rückreise besuchte Freytag noch Straßburg und Frankfurt. Der Brief schließt mit einer Einladung an Julian Schmidt, doch für einige Zeit von Leipzig nach Siebleben zu kommen sowie mit Grüßen an Seybt, Grunow und Günther.

Da Julian Schmidt sich seit dem Jahr 1857 mehr und mehr anderen Aufgaben zuwandte, galt Freytag seitdem als die eigentliche Seele der „Grenzboten“. Schon seit etwa 1855, mit der Verlobung Julian Schmidts, hatte sich das Verhältnis zwischen den Freunden verändert. Jedenfalls trat Freytag in den Jahren 1857-1862 in Gotha und Leipzig in engeren Kontakt mit dem „Patrioten“ Karl Mathy. Zu ihm blickte er „liebevoll empor“: Mathy schien nach und nach die Position Schmidts eingenommen zu haben. 26

Cookies erleichtern bzw. ermöglichen die Bereitstellung unserer Dienste. (Bei der Nichtannahme von Cookies kann die Funktionsfähigkeit der Website eingeschränkt sein.)