Nicht zu zählen sind die Namen der Juden, welche als Gelehrte und Künstler als Denker und als große Geschäftsleute als einfache Bürger durch patriotische Hingabe und menschenfreundliche Thätigkeit zu rühmen sind. Und man darf behaupten, daß jeder Fortschritt, den unsere Gesetzgebung machte, bis ihnen der Vollbesitz bürgerlicher Rechte gesichert wurde, auch die Einverleibung ihres Geistes und Gemüthes in das deutsche Leben vervollständigte. Man vergleiche die Gegenwart mit der nächsten Vergangenheit, in welcher Heine und Börne lebten. Es ist seitdem nur ein Menschenalter vergangen, aber der Unterschied in politischer Sittlichkeit und mannhaftem Patriotismus zwischen jenen starken Talenten und vielen der jetzt lebenden Schriftsteller ist sehr groß.

Es wäre unwahr, zu behaupten, daß in unseren jüdischen Mitbürgern alle Spuren des tausendjährigen Druckes ausgetilgt sind. Auch an Vielen der Besten kann man Eigenheiten in ihren geistigen und gemüthlichen Regsamkeit erkennen: im Scharfsinn, Witz, den Formen, von denen ihre gestaltende Kraft sich äußert; Eigenheiten, welche wir als jüdische zu bezeichnen geneigt sind. Vollends in ihrer Erwerbsthätigkeit sind die Nachwehen alter, arger Zeit nicht völlig überwunden. Noch giebt es deutsche Landschaften, wo die Gewohnheiten des Geldwuchers der Landbevölkerung zum Unheil gereichen und wo zu wenig für Herbeiführung besserer Kreditverhältnisse geschehen ist.

Aber alles, was von Besonderheit, von Schwächen und Schäden aus alter, arger Zeit an vielen Einzelnen hängt, das darf die beglückende Ueberzeugung nicht beirren, wie unermeßlich viel von den alten Leiden überwunden wurde, und wir durften hoffen, daß in wenigen Generationen sich ohne große Störungen die völlige Einverleibung in unser Volksthum vollziehen würde, nicht nur in Amt und Beruf, auch in den Herzen und Familien.

Jetzt erscheint Vielen diese Hoffnung unsicher.

Fast plötzlich ist der Gegensatz zwischen jüdischer und deutscher Art zum Kampfgeschrei und zum Stichworte politischer Aufregung geworden. Zuerst war es die patriotische Beschwerde eines hochsinnigen Mannes von reinem Wollen, dann wurde es Gegenstand gelehrter Auseinandersetzung, darauf bemächtigten sich eifrige Priester des Themas, endlich sank es hinab in den Dunstkreis zorniger und unzufriedener Agitatoren. Das Getöse ist so heftig, daß auch verständige Männer fragen, was daraus werden solle. Es giebt darauf nur eine runde Antwort: Nichts wird daraus. Für den Eifer und den Haß der Feindseligen durchaus nichts.

Auch dem tüchtigsten Volke bleiben Erkrankungen des Gemüths nicht erspart, welche, Fiebern und Phantasien vergleichbar, das Urtheil verstören, leidenschaftlichen Haß aufregen. Solche Krankheiten haben in der Regel einen akuten Verlauf, aber die Nachwirkungen werden nur langsam überwunden. Die antisemitischen Schreier und Ankläger dieser Tage gleichen in vielen Einzelheiten den unholden Gesellen, welche in England zur Zeit Karls II. die Menge bis nahe an den Wahnsinn brachten, Richter und Geschworene in Angst um das eigene Leben versetzten. Damals wurden nicht die Juden, sondern die Katholiken als Feinde der Nation verklagt und durch falsche Zeugen auf das Schaffot gebracht. Die beschränkten und die argen Gesellen, welche jetzt die Wege der englischen Angeber, der Titus Oates und Dangerfield, wandeln, werden in Verachtung vergehen wie diese.

Niemand aber fühlt das Leidige dieses Streites mit so heißem Schmerze als der redliche Jude selbst. Er hat seither friedlich mit dem christlichen Nachbar verkehrt, als Genosse in der Politik, als Freund im geschäftlichen Verkehre und im Hause, als Vertrauter, vielleicht als Lehrer in wissenschaftlicher Forschung. Er hat in Gesellschaft mit ihm getrunken und gelacht, war geehrter Brautzeuge, wenn sein christlicher Freund die Tochter vermählte, und hat trauernd seinen Kranz auf den Sarg des Christen gelegt, er hat seine Söhne für das Vaterland in den Kampf geschickt und hat sich als guter Deutscher gefühlt in Liebe und Abneigung. Jetzt sieht er entsetzt, daß ein Abgrund geöffnet ist zwischen ihm und seinen christlichen Freunden, und daß immer noch das alte grausige Schicksal der Vorfahren über seinem Leben und der Zukunft seiner Kinder hängt.

Immer hat er in der Stille, ach wie tief, die Schwächen und das geschäftliche Gebahren zurückgebliebener Glaubensgenossen empfunden und das Lächerliche ihrer Anmaßung verurtheilt, wenn sie ein unsicheres Selbstgefühl ungeschickt geltend zu machen suchten. Wenn jetzt die Glocken das hohe Christenfest einläuten zum Gedächtniß der Boten, welche einst die milde Lehre von der Nächstenliebe in eine Welt voll von Selbstsucht und Haß getragen haben, so dringt ihm der eherne Ton als Mißklang in das Ohr. Er hat für die Christen aufgehört, der Nächste zu sein.

Möge er gläubig der hohen Gewalt, welche über ihm wie über uns waltet, vertrauen. Nicht thatenlos, denn auch er soll helfen, daß besser werde, was in seinen Kreisen von starrem Hochmuth und verknöcherter Selbstgefälligkeit zu finden ist. Aber er soll derselben heiligen Lehre von der Liebe vertrauen, welche schon vor fast zweitausend Jahren den Samariter und Juden als Brüder verkündete, die seitdem das Menschengeschlecht aus Völkermord und geistiger Knechtschaft höher und höher heraufhob, um das Dasein aller Staatsgenossen sicherer, tüchtiger und schöner zu gestalten. Diese Botschaft aus Judäa wird auch den Haß zwischen Confessionen und Stammbäumen so überwinden, daß unsere Nachkommen desselben dereinst lächelnd wie einer alten geschichtlichen Sage gedenken.

Pfingsten 1893

 

Broschüre des 'Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens'; zuerst erschienen in der Wiener "Neuen freien Presse" vom 21. Mai 1893

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