Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 2. Band 1. Ein fahrender Schüler (1509 und folgende Jahre)

Das fünfzehnte Jahrhundert versank. Uns Deutschen erscheint es eine Zeit der Versuche, eifriger aber unfertiger Bildungen. Die Aufregung der Massen in einem großen halbslavischen Volksstamm des Römischen Reiches hatte Tod und Verderben über die deutschen Landschaften gebracht, aber der Fanatismus der Hussiten schien  auf der Brandstätte von hundert deutschen Städten und Dörfern verkohlt.

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Und doch zitterte die Bewegung in den Herzen fort durch zwei Geschlechtsfolgen, und im nächsten Jahrhunderte loderte die Flamme von neuem auf, mächtiger, unvertilgbar, eine Feuersäule für ganz Europa. Auch das Haus der Luxemburger war vergangen, seine letzten Erben hatten einst die ungarische Krone an die östreichischen Habsburger verpfändet, scheidend überließen sie diesen ihre Ansprüche auf die weiten und unsichern Erwerbungen ihres Stammes. Aber noch stand das Geschlecht der Habsburger in Deutschland nicht fester als alle andern deutschen Fürstenhäuser, als die Wittelsbacher, die Wettiner, die Hohenzollern. Und doch machte das nächste Jahrhundert Karl. V. zum größten Landgebieter der Erde.
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Vergebens hatte man auf den Concilien zu Kostnitz und Basel gearbeitet, die Schäden der römischen Kirche zu heilen, fruchtlos mühte man sich am Ende des Jahrhunderts, das zerfallene Haus des deutschen Reiches durch neue Pfeiler zu stützen, während doch Ludwig XI. in Frankreich, der erste Tudor in England ihr Königtum hoch über den Trotz der großen Vasallen erhoben. Es war ein Jahrhundert der Fehden und einer rücksichtslosen Selbstsucht, und wieder des freien Zusammenschlusses zu praktischen Zwecken, überall Städtebünde und Ritterbünde. Es war aber auch die Zeit, wo der deutsche Geist, auf Erreichbares und Endliches scharf gerichtet, zu der größten aller neuen Erfindungen kam, zur Kunst Bücher zu drucken; wo trotz den Kämpfen auf der Landstraße und blutigem Hader hinter den Stadtmauern Handel und Handwerk zu reichlicher Blüte kamen, wo der Bürger und Bauer sich als Kriegsmann fühlen lernte, wo der deutsche Kaufmann die nördlichen Meere seiner Herrschaft unterwarf, während der romanische Seefahrer durch die Nebel eines ungeheuern Ozeans zu unbekannten Erdteilen drang. Es war endlich die Zeit, in welcher die Saumtiere der Alpen mit den Gewürzen des Orients und den Bullen des Papstes auch die Handschriften fremder Werke zutrugen, aus denen sich über Deutschland eine neue Wissenschaft, die Morgenröte des modernen Lebens verbreitete.

Das sechzehnte Säculum kam herauf, und mit ihm die größte geistige Bewegung, welche je eine Nation in den innersten Tiefen aufgewühlt hat. Für immer hat nach menschlichem Ermessen dies Jahrhundert dem Geist und Gemüt der Deutschen sein Gepräge aufgedrückt. Eine einzige Zeit, wo eine große Nation emsig und angstvoll ihren Gott suchte, Frieden für die beängstigte Seele, sittlichen und gemütlichen Inhalt für ein Leben, das ihr reizlos, trübe, arm und verdorben erschien. - Sehnsucht nach Erkenntnis der Wahrheit und heißes Ringen nach der ewigen Liebe, das sollte auf lange die herrschende Leidenschaft der Deutschen werden.

Solche Anstrengung der Volksseele, das gesamte Leben neu zu gestalten durch ein tiefes Erfassen des Ewigen, hat auch die politische Entwicklung der Deutschen in einen Lauf gebracht, welcher dem anderer großer Kulturvölker scharf entgegengesetzt ist. Denn dieser leidenschaftliche Kampf hat die volle Kraft der Nation in Anspruch genommen bis zur äußersten E´rschöpfung, er hat die politische Einigung Deutschlands um Jahrhunderte aufgehalten, die furchtbarsten innern Kriege, eine totenähnliche Ohnmacht sind ihm gefolgt; er hat einen tiefen Riß gemacht zwischen Deutschen und Deutschen, zwischen der neuen Zeit und dem Mittelalter. Er hat verursacht, daß ein großer Tiel des deutschen Volkes, welches seine Geschichte bis auf die Jahre Ariovist's und Armin's zurückführen kann, jetzt die Hohenstaufenzeit, ja das Reichsregiment des ersten Maximilian betrachten darf wie eine dunkle Sage, denn seine Staatenbildung, seine Rechte, seine Gemeindegesetze sind kaum so alt als die der nordamerikanischen Freistaaten.
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Die älteste unter den stolzen Nationen, welche auf den Trümmern des Römerreiches entstanden, ist jetzt in vieler Beziehung das jüngste Mitglied der Staatenfamilie Europas. Aber wie verhängnisvoll auch jener Streit des sechzehnten Jahrhunderts für die politische Gestaltung des Vaterlandes geworden ist, dennoch soll jeder Deutsche mit Ehrfurcht darauf zurücksehen, denn ihm verdanken wir alles, was jetzt unsern Stolz und unsere Hoffnung ausmacht, unsere Opferfähigkeit, unsere Wissenschaft, unsere Kunst, zuletzt auch die große Verpflichtung, welche die Ahnen auf unsere Seele gelegt haben, die Pflicht das zu vollenden, was ihnen mißlang. Gerade jetzt, wo wir mitten im politischen Kampfe für deutsches Wesen stehen, wird es nützlich sein zu gedenken, wie dieser Streit vor vierthalbhundert Jahren im Volke begonnen hat.

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Anmerkung: Der besseren Lesbarkeit wegen wurden einige Absätze eingefügt, wo im Original keine sind. Diese sind durch einen "." in der Leerzeile zu erkennen.

Entnommen aus: Gustav Freytag, Gesammelte Werke in 22 Bänden, Band 19, Seite 1-3, Verlag von S. Hirzel, Leipzig 1898, 2. Auflage
Die Rechtschreibung wurde behutsam modernisiert, um die Lesbarkeit zu erleichtern (z. B. aus "th" wurde "t")

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