Hinweis: Die Anmerkungen finden sich in einem Extra Beitrag, > bitte hier für die Anmerkungen klicken<. Der Beitrag öffnet sich in einem neuen Tab, so daß durch Wechsel des Browsertabfensters bequem die Anmerkungen parallel zum Text eingesehen werden können.
Der Webmaster

 

Vorbemerkung

Die Beziehung zu Julian Schmidt nimmt einen besonderen Stellenwert im Leben Gustav Freytags ein. Schmidt, im Jahr 1818 in Marienwerder geboren, war einer der bedeutendsten Literaturhistoriker und -kritiker des 19. Jahrhunderts. Seine Werke zur Geschichte der Literatur in Deutschland, England und Frankreich waren zur damaligen Zeit "Standardwerke". Zudem trat Julian Schmidt als Herausgeber damals aktueller "Klassiker" sowie mit Arbeiten über diese hervor: Kleist, Novalis, Schiller, Herder und Goethe seien hier exemplarisch genannt. Über einen Zeitraum von etwa 14 Jahren war Julian Schmidt zudem - gemeinsam mit Gustav Freytag - als Herausgeber der national-liberalen Zeitschrift "Die Grenzboten" tätig. Im Revolutionsjahr 1848 lernten sich die beiden als junge Männer kennen: Freytag war 32 Jahre alt, Schmidt zwei Jahre jünger. Fast 40 Jahre lang blieben sie seitdem miteinander verbunden. Nicht immer verlief alles in Einklang und Einvernehmen, doch blieb der Kontakt zwischen beiden (unter Einbeziehung ihrer späteren Ehepartner) bis zu Julian Schmidts Tod im Jahr 1886 erhalten.

In der nun folgenden Arbeit soll einiges dargestellt werden von der wechselvollen und facettenreichen Geschichte dieser Freundschaft, zunächst von der ersten Begegnung in Leipzig bis zum Jahr 1861, als Julian Schmidt von Leipzig nach Berlin übersiedelte. Anschließend wird der Zeitraum bis zum Tod Julian Schmidts (1886) betrachtet.

Neben den „Lebenserinnerungen“ Gustav Freytags sind in die folgende Abhandlung insbesondere seine Briefe an den Freund und Verleger Salomon Hirzel eingeflossen. Zudem wurde der Nachlass Julian Schmidts in Berlin hinzugezogen, der eine Reihe von Briefen Freytags an Schmidt enthält, welche nach meiner Kenntnis bisher noch nie in der Literatur über Freytag und Schmidt Berücksichtigung fanden. 1

Vergleicht man die beiden erstgenannten Quellen, so ergibt sich ein zum Teil divergierendes Bild der Beziehung zwischen Gustav Freytag und Julian Schmidt: in den privaten Briefen an Salomon Hirzel ist manches deutlicher ausgesprochen als in den für die Öffentlichkeit bestimmten autobiographischen Aufzeichnungen Freytags. In ihrer Einleitung zum Briefwechsel zwischen Gustav Freytag und seinem Freund Theodor Molinari äußern die Herausgeber Izabela Surynt und Marek Zybura Aufschlussreiches über die Funktion und Intention von Freytags „Lebenserinnerungen“: „Die autobiographische Schrift Freytags, Erinnerungen aus meinem Leben, die er der Gesamtausgabe seiner Werke (1887) voranstellte, schweigt sich über Freytags private Angelegenheiten völlig aus. Dies überrascht auch kaum, wenn man bedenkt, dass die Erinnerungen zur Zeit der größten Popularität Freytags erschienen sind, als die Auflagen seiner Werke ungewohnte Höhen erreichten und der Schriftsteller selbst einen gefragten Gegenstand des öffentlichen Interesses bildete… Da Freytag vor allem als ´Volkserzieher´ und nationalliberaler Autor von der Öffentlichkeit verstanden werden wollte und gar nicht als Privatperson, orientiert sich seine Autobiographie an anderen Erzählmustern als die – nicht selten sensationsfreudigen – bekenntnishaften Memoiren früherer Epochen… Nicht mehr die private Geschichte des Einzelnen steht im Mittelpunkt, … sondern die Geschichte des Staatsbürgers, des Staates und der Nation, was im deutlichen Hervortreten der historiographischen Komponente in autobiographischen Texten dieser Zeit erkennbar wird… Als nicht zufällig ist in diesem Kontext die Positionierung der Erinnerungen gleich am Anfang der Ausgabe der Gesammelten Werke Freytags (der erste Text im ersten Band) anzusehen, die den Gedanken an die bewusst unternommene Selbstinszenierung nahelegt. Denn vergleicht man Freytags Selbstbeschreibung bezüglich anderer Themen (seine Studienzeit, akademische Laufbahn, Freundeskreis oder Privatleben) mit seinen Behauptungen, die in Briefen an Freunde und Familienmitglieder auftauchen, dann erst wird die Skala der Autozensur, der bewussten Ausblendung oder Akzentverschiebung in der Darstellung bestimmter Sachverhalte sichtbar.“

Das Prädikat "unzensiert" bzw. "authentisch" darf man auch den ausschließlich im privat-freundschaftlichen Vertrauensverhältnis verfassten Briefen Freytags an Schmidt erteilen - das wird sich im weiteren Kontext deutlich zeigen. Somit basiert die folgende Darstellung auf einer "autozensierten" Quelle (Freytags "Lebenserinnerungen") sowie auf authentisch einzuschätzenden Dokumenten (seinen persönlichen Briefen an Hirzel und Schmidt).

 


Die Leipziger Jahre (1848-1861)

Die Begegnung mit Julian Schmidt fiel für Gustav Freytag in eine Zeit, die durch persönliche und politische Umschwünge und Krisen gekennzeichnet war. Die Ereignisse der Jahre 1847 und 1848 müssen hier im Zusammenhang gesehen werden.  Zu Beginn des Jahres 1847 siedelte Freytag nach Dresden über. Dort heiratete er die wohlhabende Schlesierin Emilie Scholz, geschiedene Gräfin Dyhrn. Die Gräfin hatte sich von ihrem Mann getrennt und war dann Gustav Freytag nach Dresden gefolgt. Ein weiterer Einschnitt im Leben Gustav Freytags war der Tod seines 72-jährigen Vaters im Jahr 1848. Zudem führten die revolutionären Ereignisse desselben Jahres in Mitteleuropa zu politischer Unruhe und wirkten hinein bis in die persönlichen Beziehungen des Grenzboten-Kreises.

Im Herbst des Jahres 1847 hielt sich Freytag in Leipzig auf, um sein Theaterstück "Valentine" aufzuführen. Im Herbst 1848 siedelte Freytag, nachdem er Julian Schmidt kennengelernt und sich zur Mitarbeit bei den „Grenzboten“ entschieden hatte, nach Leipzig über. Aus einem Brief an seinen Freund Theodor Molinari erfährt man, wo das Ehepaar Freytag später in Leipzig wohnte, und zwar in der „Kreuzstraße No. 8, parterre“ – dort, so hoffte Freytag, würde Molinari ihn besuchen. 3

Zu Freytags Freunden gehörten in dieser Zeit auch Theodor Mommsen, Maximilian Wolfgang Duncker, Karl Friedrich Samwer, Ernst Alfred Christian von Stockmar, Franz Hermann Schulze-Delitzsch, Rudolf Friedrich Moritz Haupt sowie der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm (Friedrich III., welcher im sog. „Dreikaiserjahr“ 1888 starb, kurze Zeit nachdem er die Nachfolge Wilhelms I. angetreten hatte). In diesem Kontext lernte Freytag Julius Fröbel und Arnold Ruge kennen. Auch mit Ludwig Tieck und Eduard Devrient stand er in Verbindung.

Der Kontakt zwischen Freytag und Schmidt wurde durch Ruge vermittelt - der Anlass ist unklar. Obwohl Freytag in Leipzig einen neuen Menschenkreis kennen lernte, schien er sich innerlich nicht in der neuen Umgebung verankern zu können. Ruge und Fröbel, zwei politisch orientierte Schriftsteller, standen zwar mit Freytag in persönlichem Kontakt, doch diesen, bis dahin politisch eher indifferent, traf der revolutionäre politische Umschwung des Jahres 1848 wohl eher unvorbereitet. 4 Dennoch: preußische Staatsgesinnung und ein inniges Nationalgefühl waren Grundlagen von Gustav Freytags Wesen. Erschüttert war er von „Preußens Missgeschick, Friedrich Wilhelms IV. politischem Versagen“. 5

Das Jahr 1848 – Gustav Freytag beging am 13. Juli seinen 32. Geburtstag – wurde bedeutsam für ihn, weil sich persönliche und historische Umwälzungen miteinander verschränkten und zu einer Sinnkrise führten. Selbst die bisher erfolgreiche literarische Tätigkeit vermittelte ihm keinen Halt mehr: „Da kam das Jahr 1848 und stellte Aufgaben, die größer waren als alle Eroberungen auf der deutschen Bühne ... Ich fühlte mich in dieser Zeit zu Dresden vereinsamt, meine Verleger Ruge und Fröbel wurden mir schnell entfremdet, und ich sah umher, ob ich irgendwo Gelegenheit finden könnte, mich in meiner Art tätig zu erweisen." 6

Die Begegnung mit Julian Schmidt fiel in die ersten Monate des Jahres 1848. In seiner Autobiographie äußert sich Freytag über Schmidt in einem warmen, verehrenden, ja liebevollen Ton. Keine andere Person wird mit solcher Innigkeit beschrieben, was durch Zitate im Folgenden noch deutlich werden wird. Auch fällt auf, dass Freytag keine der von ihm erwähnten Personen in seiner Lebensbeschreibung nur bei ihrem Vornamen nennt, Schmidt jedoch wird mehrfach „Julian“ genannt.

Im 9. Kapitel seiner Erinnerungen beschreibt Freytag seine erste Begegnung mit Julian Schmidt wie folgt: „Es war in den ersten Monaten des Jahres 1848, als ich bei einem Besuch in Leipzig einem kleinen Herrn gegenüber saß, dem hübsche blonde Locken ein rundliches, rosiges Kindergesicht einfassten, und der hinter großen Brillengläsern starr und schweigsam auf seine Umgebung sah. Es wurde mir gesagt, dass dies Julian Schmidt, der Verfasser des gelehrten Werkes „Geschichte der Romantik“ sei. Längere Zeit hörte er schweigend dem politischen Gespräch mit Bekannten zu, plötzlich aber, als ihm irgend eine Behauptung missfiel, brach der Strom der Rede aus seinem Innern, wie schäumender Wein aus entkorkter Flasche. Schnell und kräftig flossen die Worte im scharfen ostpreußischen Dialekt. Was er sagte war so klar, energisch und warm, dass alle verwundert zuhörten, und dass die Unterhaltung nicht wieder in Fluss kam, auch als er geendet hatte und sich wieder schweigend hinter seine Brille zurückzog. Darauf gerieten wir beide in ein Gespräch, das lange dauerte, und es ergab sich eine solche Übereinstimmung in den Ansichten, nicht nur über Preußen und die deutsche Unordnung, auch über verkehrte literarische Richtungen der Zeit, dass ich in großer Hochachtung von ihm schied. Seitdem suchten wir einander, so oft sich die Gelegenheit bot.“ 7

Seelische Offenheit und ein liebevoller Blick enthüllten Freytag die Polarität des Wesens des zwei Jahre jüngeren Julian Schmidt: einerseits dessen kindliche, sympathische Erscheinung, die sich hinter einer Brille in einem starren, schweigsamen Blick konzentrierte; andererseits die lebendige, energische und klare Rede, die alle anderen zum Schweigen brachte. Diese Polarität mag in Freytag die Empfindung ausgelöst haben, einem Menschen gegenüberzustehen, dem er sich einerseits in väterlicher Zuneigung öffnen konnte, bei dem er andererseits aber spürte, dass dieser ihm an gedanklicher Klarheit, intellektueller Schärfe und Entschlossenheit ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war: „energisch und warm“ sprach Schmidt – Freytag schien in ihm eine in sich ruhende Persönlichkeit gesehen zu haben.

Das Interesse an seinem Gegenüber muss aber auch bei Schmidt geweckt worden sein, denn sonst hätte er sicher nicht ein langes Gespräch mit Freytag geführt. Was genau Schmidt in Freytag „sah“, wird hier nicht deutlich, aber Fakt ist, dass beide Männer (so Freytag) seitdem „einander suchten, so oft sich die Gelegenheit bot.“ Nach außen hin fokussierte sich diese Übereinstimmung in einer neuen gemeinsamen Aufgabe, resultierend aus einer gemeinsamen politischen Überzeugung. In der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ heißt es: "In dieser patriotischen Trauer kam er bei einer Begegnung in Leipzig mit Julian Schmidt überein, die Grenzboten ... gemeinschaftlich zu erwerben und zu leiten. Es galt deren Verwandlung in ein preußisch-deutsch gesinntes Blatt, das die verirrte öffentliche Meinung zurechtweisen und zugleich die Literatur von romantischen Träumen und jungdeutscher Verzerrung zur lebendigen Wahrheit des Zeitalters hinüberlenken sollte. “ 8

Eng verbunden mit Julian Schmidt war damals Jakob Kaufmann. 9 Über ihn und Schmidt äußerte sich Freytag folgendermaßen: „Als ich ihn kennen lernte, war er bereits in guter Kameradschaft mit Julian Schmidt. Und die beiden Gesellen saßen bei der Arbeit und abends am Schenktisch in der aufgeregten Sachsenstadt nebeneinander wie zwei kluge Käuzlein unter dem schwirrenden und schreienden Vogelvolk.“ 10 Auch hier fällt – wie bei der soeben zitierten Schilderung Schmidts – die „Augenmetaphorik“ auf: als „Käuzlein“ werden Schmidt und Kaufmann bezeichnet, die mit wachem Blick für ihre Umgebung in der schwirrenden Menge sitzen, aber von deren Unruhe unberührt blieben. Zudem ist der Kauz als Nachtvogel ein Wesen, das für dem Tagesbewusstsein verborgene Vorgänge eine besondere Aufmerksamkeit hat.

Der Beginn der gemeinsamen Außenwirksamkeit Schmidts und Freytags fiel in die Mitte des Jahres 1848: „Als ich einige Monate später mit Schmidt zusammentraf, machte er mir den Vorschlag, ich möge den Eigentumsanteil, welchen Kuranda an den Grenzboten hatte, zu übernehmen. Da dies ganz zu dem stimmte, was ich in dieser Zeit für mich wünschte, so erklärte ich mich sogleich bereit, wenn nämlich Schmidt mein Partner und Kollege werden wolle. Er schlug ein und wir erwarben zu gleichen Teilen Eigentumsrecht an dem Blatt.“ Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass erstens Schmidt den Vorschlag machte, die „Grenzboten“ gemeinsam zu leiten und dass zweitens Freytag die Bereitschaft seiner Mitwirkung davon abhängig machte, „wenn Schmidt ... Partner und Kollege werden wolle.“ Hier zeigt sich, dass Schmidt offenbar von beiden derjenige war, der größere Sicherheit ausstrahlte und dass Freytag in seiner Lebenslage diese Sicherheit des „Käuzleins“ brauchte, um neuen Boden unter den Füßen zu gewinnen. So begann also am 1. Juli 1848 das gemeinsame journalistische Unternehmen „Die Grenzboten“.

Im Herbst 1848 siedelte Freytag nach Leipzig über – Julian Schmidt wohnte zunächst bei ihm. Offenbar lag die Wohnung in der Rosentalgasse 2.12 In Leipzig lernte Freytag edle Freunde kennen, so Salomon Hirzel, der später sein treuer Verleger wurde, sodann die Altertumsforscher Moriz Haupt, Jahn und Theodor Mommsen (von Mommsen erschien 1854/56 die „Römische Geschichte“, die 1902 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde).

Gustav Freytags Lebenskrise zeigte sich unmittelbar nach dem Wohnortwechsel, indem er nach seiner Ankunft in Leipzig erkrankte.13 Berufliche Anspannungen mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben, denn die journalistische Arbeit stellte vor dem damaligen Zeithintergrund eine besondere Herausforderung für die „Grenzboten“ dar. Gustav Freytag schrieb in seinen „Lebenserinnerungen“ rückblickend aus dem Jahr 1887 über die besonderen Schwierigkeiten des Journalismus im Allgemeinen: „Vom 1. Juli 1848 begann die selbständige Tätigkeit der neuen Redaktion. Einem jüngeren Geschlecht mag es nicht leicht sein, sich in die journalistischen Zustände jener Zeit hineinzudenken und diesen ersten Flugversuchen der befreiten Presse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gab damals keine erprobten Staatsmänner mit festen Zielpunkten und keine maßgebenden Politiker, ja es gab nicht einmal feste politische Parteien. Die Regierenden folgten mit großer Willensschwäche der Strömung, und standen neuem Verlangen der aufgeregten Massen ratlos gegenüber. Die konservativen Kräfte in der Nation schienen geschwunden, das nationale Selbstgefühl war schwach; die liberalen Forderungen gingen weit auseinander, und der süddeutsche Liberalismus, auch der Gemäßigten, krankte an dem Übelstand, dass ihm die sämtlichen Staatsregierungen, vorab Preußen, für Feinde der deutschen Zukunft galten. Wärme für den eigenen Staatsbau bestand im Grunde nur in Preußen, und war auch dort zur Zeit ein verschüchtertes Gefühl. In der Nationalversammlung zu Frankfurt aber begannen erst die großen dialektischen Prozesse, welche zu dem Verfassungsentwurf von 1849 leiteten, auch dort bildete sich erst allmählich unter dem Zwang der Tatsachen das Parteileben und eine Majorität für die berechtigten nationalen Forderungen. Wer in solcher Zeit als Journalist über Politik schrieb, hatte keinen anderen Anhalt, als das Idealbild, das er sich selbst von einer wünschenswerten Zukunft des Vaterlandes gemacht hatte, und keinen anderen Maßstab für sein Urteil, als die Ansichten, die ihm zufällige Eindrücke seines eigenen Lebens vermittelt hatten; Sprache, Stil und die notwendige journalistische Taktik, alles was er hasste und was er liebte, musste ihm der eigene Charakter geben. Er war frei wie der Vogel in der Luft, ohne Führer, ohne Partei, ohne die Erfahrung und ohne die Bescheidenheit, welche die Gewöhnung einer Nation an parlamentarische Tätigkeit dem einzelnen zuteilt. Das war eine wundervolle Lehrzeit des deutschen Journalismus, und es ist kein Zufall, dass aus dem Jahr 1848 viele tüchtige Redakteure unserer größeren politischen Zeitungen erwachsen sind, klug, welterfahren, gewandt, von sicherem Urteil in großen Fragen, denen ein jüngerer Nachwuchs nicht ebenso reichlich gekommen ist.“ 14

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die „Krise“ der Jahre 1847/48, die Gustav Freytag erlebte, überwunden werden konnte durch eine Verankerung in einer ideellen Überzeugung und persönliche Charakterstärke, gestützt auf Julian Schmidt - und natürlich die anderen Männer des „Grenzboten-Kreises“. Dass Schmidt in diesen Turbulenzen der Zeit eine feste Bezugsgröße für Freytag gewesen ist, erhellt aus den sich unmittelbar anschließenden Aussagen über dessen Persönlichkeit: Freytag äußert sich in der oben bereits erwähnten vertrauten Weise über Schmidt, indem er ihn nur bei seinem Vornamen nennt. Zudem dokumentiert sich im Folgenden die neu gewonnene Lebenssicherheit Freytags, indem er im Rahmen der journalistischen Tätigkeit oft von „wir“ spricht (und dabei Schmidt und Kaufmann mit bedenkt). Beachtenswert ist auch Julian Schmidts konsequenter Idealismus, der ihn über existenzielle Sorgen und materielle Einschränkungen hinweg trug: „Mit frohem Herzen gingen auch die Redakteure der kleinen Grenzboten an ihr Werk. Das Arbeitsgebiet war nicht fest verteilt, doch besorgte Julian in der Regel die deutschen Artikel, ich die österreichischen und das Ausland, er außerdem fast die ganze Literatur und Kunst mit Ausnahme des Theaters, dazu, solange ich noch in Dresden wohnte, mit Kaufmann die Redaktion der einlaufenden Mitteilungen. Und wir richteten offene Briefe, wie damals Zeitgeschmack war, an die verschiedenen Staatsmänner und Parteiführer predigten ihnen schonungslos Tugend und Weisheit ohne nähere Kenntnis der Personen und der Verhältnisse, durch welche sie beschränkt wurden. Wir gaben dem Österreicher Pillersdorf den verständigen Rat, sich von Deutschland zu trennen, auch Italien aufzugeben, und machten ihn aufmerksam, dass es wünschenswert sei, Bosnien zu nehmen und die Völker des unteren Donaulands in einen großen Bundesstaat zu vereinigen. Wir verurteilten die Demokratie der Straße mit großer Verachtung, und benutzten jede Gelegenheit den aufgeregten Deutschen zu sagen, dass Preußen noch vorhanden und unter allen Umständen unentbehrlich sei... In dieser Zeit waren der starke Menschenverstand Julians, seine Tapferkeit, die souveräne Verachtung des leeren Scheines und der Phrasen, und daneben seine warme Anerkennung mannhafter Selbständigkeit, wo diese einmal bemerkbar wurde, eine wahre Erquickung. Im Herbst 1848 zog ich nach Leipzig ... und verfiel bald einer schweren Krankheit, und er hatte unterdes die ganze Sorge der Redaktion zu tragen und zwar in ungünstiger Zeit, denn das Blatt, welches den Österreichern nicht mehr bequem war, verlor im Süden seinen Einfluss und hatte solchen in Deutschland erst zu gewinnen. Dieser plötzliche Wechsel der Abonnenten, der gefährlichste Umstand für eine Zeitschrift, machte das Jahr 1848 zu dem mühevollsten, welches die Redaktion durchzumachen hatte, und ich vermute, dass Julian, der seine ganze Zukunft dem kleinen Fahrzeug anvertraut hatte, zuweilen mit stiller Sorge bedrückt war; er hat sie nie gezeigt, war immer frisch, heiter und tapfer bei der Arbeit, obwohl ihm das Blatt damals keinen anderen Ertrag brachte als das geringe Honorar, welches er wie jeder andere Korrespondent bezog.
Unterdes lebten wir uns zu Leipzig in einem größeren Kreise guter Bekannten ein bei friedlichem Abendverkehr. Zunächst natürlich mit solchen, welche der Zeitschrift nahe standen und Beiträge lieferten. Außer Kaufmann wurde ein werter Freund Constantin Rößler, der damals als Privatgelehrter in Leipzig weilte... Die Zeit war schlecht, dennoch fehlte dem Kreise der frohe Übermut nicht.“ 15

Die privaten Bindungen unter den „Grenzboten“ waren recht eng: 1849/50 fungierten Schmidt und Kaufmann als Brautführer bei der Hochzeit Mitarbeiters Wilhelm Hamm, welcher die Tochter aus einem Pfarrhaus nahe Leipzig zum Altar führte. „Beide standen würdig am Altar hinter der Braut... Nach Tisch traten die Grenzboten16 als die heiligen drei Könige vor das neue Ehepaar und sagten Goethes Gedicht mit den nötigen Änderungen her. Schmidt zog hinter seinen runden Brillengläsern als der weise Kaspar auf, die blonden Löckchen mit weißem Mehl gepudert, und Kaufmann musste sich durch gebrannten Kork in einen schwarzen Mohrenprinzen umwandeln lassen."17

Eine Zäsur stellte offenbar der Zeitpunkt um 1851 dar. Das Interesse an politischen Angelegenheiten trat in der Öffentlichkeit zurück, was bei den „Grenzboten“, initiiert durch Julian Schmidt, zu einer neuen journalistischen Ausrichtung führte. Das öffentliche Klima um das Jahr 1851 war – laut Freytag – gekennzeichnet dadurch, dass „alle Gegensätze scharf gegeneinander schlugen.“ Schmidt, der zugreifendere Charakter, stürzte sich in dieses von Gegensätzen geprägte Klima der Jahrhundertmitte: „Als die Politik nicht mehr das ganze Interesse der Leser der Grenzboten in Anspruch nahm, begann Schmidt literarische Artikel gegen die Jungdeutschen und Romantiker zu verfassen. Seine energische Tätigkeit nach dieser Richtung schuf ihm und dem Blatt viele Gegner, unter denen Gutzkow der erbittertste war, aber sie ist wohl wert, dass man mit Anerkennung daran zurück denke. Es war damals die Zeit, wo alle Gegensätze scharf gegeneinander schlugen und Schmidt war nicht der Mann, in seinem Feuereifer jedes Wort vorsichtig abzuwägen. Doch der letzte Grund seines Unwillens war immer ehrenwert, es war der Hass gegen das Gemachte und Gleißende, gegen ungesunde Weichlichkeit und gegen eine anspruchsvolle Schönseligkeit, welche an den Grundlagen unseres nationalen Gedeihens, an Zucht und Sitte und deutschem Pflichtgefühl rüttelte mit einem Hochmut, dessen letzte Ursache Schwäche des Talents oder gar des Charakters war. Jetzt, wo diese Schwächen und Fehler überwunden oder mit anderen vertauscht sind, wird uns eine unbefangene Beurteilung leichter. Damals galt es, das anspruchsvolle, noch mächtige Schädliche zu beseitigen. Es ist auch nicht richtig, dass durch die Bewegung des Jahres 1848 und deren Folgen bereits eine Besserung bewirkt war, und dass es absterbende Richtungen waren, welchen die Grenzboten den Krieg erklärten. Denn indem Schmidt verurteilte, was in unserer Literatur krank war, wies er auch unablässig auf die Heilmittel hin und wurde dadurch in Wahrheit ein guter Lehrer für die Jüngeren, welche falschen Vorbildern, die in unbekämpftem Ansehen stehen, zu folgen bereit sind. Ihn selbst haben die Gegenangriffe der Gekränkten, an denen es nicht fehlte, vielleicht einmal geärgert, nie beirrt“. 18

Freytag schien diese kämpferische Seite zu fehlen: er hat gewisse Spannungen und Konflikte wahrscheinlich eher ruhiger mit sich selbst abgehandelt. Dies kann man daraus schließen, dass Freytag sich auf ärztliches Anraten im Juli 1851 plötzlich veranlasst sah, aufgrund seiner gesundheitlichen Situation ein Haus in Siebleben zu erwerben, um dort die Sommermonate zu verbringen. So teilten sich seit 1851 Schmidt und Freytag im halbjährlichen Wechsel die Redaktionsleitung in Leipzig.

Über Julian Schmidts Charakter und Denkweise erfährt der Leser des 9. Kapitels der Lebenserinnerungen Freytags fast mehr als über seine eigene; doch mag die Darstellung der Tätigkeiten und Eigenschaften des Freundes aus dieser Zeit widerspiegeln, was Freytag vielleicht gesucht, aber sicherlich, was ihm Halt gegeben hat. Über Julian Schmidt heißt es weiter: „Und doch, obgleich er als Kritiker dafür galt, dass ihm Anerkennung schwer wurde, stand er nichts weniger als kalt dem geschaffenen Dichterwerke gegenüber. Er hatte an allem wohl Gelungenen eine tief innige Freude und behielt vor echter Poesie die Wärme und Begeisterung eines Jünglings bis in sein höheres Alter. Vor allem fesselte ihn originelle Zeichnung der Charaktere, nächstdem die Grazie in Schilderung und Sprache. Die Darstellungsweise der englischen Dichter war ganz nach seinem Herzen, den Zauber der wundervollen Färbung bei Dickens empfand er so voll, wie nur ein Engländer jener Zeit, und für die stärkeren Talente der Franzosen, z.B. für Balzac, fühlte er weit größere Sympathie als sein Mitredakteur. Wo er hohe Intentionen fand, wurde er auch durch große Mängel in der Ausführung nicht erkältet. Er ließ nicht ab, mit dem Schwulst und der Neigung zum Hässlichen bei Hebbel abzurechnen, aber obgleich ihn in jedem neuen Werk desselben vieles verletzte, so blieb ihm doch das Bedürfnis dieses Talentes, Großartiges darzustellen, sehr ehrenwert. Wo er vollends die Gabe erkannte, gesunde Menschen zu schildern, wurde er ein freundlicher Ratgeber. Er war es, der in der Presse zuerst das kräftige Talent Otto Ludwigs verkündete, und vollends Fritz Reuter hat keinen wärmeren und besseren Beurteiler gefunden als ihn. In gehobener Stimmung und mit schöner Herzensfreude trug er die Gestalten und Situationen jeder neuen Geschichte des wackeren Mannes in sich herum und wurde nicht müde, sie in heiterer Gesellschaft zu rühmen. In derselben bereitwilligen Anerkennung eigenartiger Schilderung von Charakteren und Zuständen wurde er auch später ein Bewunderer und Freund Iwan Turgenjews. - Fand er aber in einer Dichternatur nicht viel von dem, was ihn kräftig anzog, so ging er in seiner Kritik an den Grenzen solcher poetischen Begabung herum, er bornierte sich gewissermaßen das, was ihm fremdartig blieb, und weil er dann, um seine Kälte zu rechtfertigen, mehr von den Schwächen als von dem Guten des Werkes sprach, so machte seine Besprechung wohl einmal den Eindruck zu großer Strenge. Aber er selbst war, wo er später zu besserer Würdigung kam, sogleich bereit und eifrig, sein Urteil zu ändern. Denn immer urteilte er ehrlich seiner eigenen Natur gemäß und ehrlich gegen die Kunst, nur um der guten Sache willen, und immer vom Standpunkt eines tüchtigen Mannes und eines wackeren Deutschen. Und diese Eigenschaft hat ihm, dem Kritiker, bei der jüngeren Generation auch zuerst seine Bedeutung verschafft, denn bei einer Kritik sucht der Leser geradeso wie bei der Geschichtsschreibung nicht nur geistvolles Urteil, sondern über allem in dem Beurteilenden einen Mann, in dessen Charakter er Vertrauen setzen kann. Langjährige fortgesetzte Beschäftigung mit Kritik, zumal mit ästhetischer, bereitet auch dem Beurteilenden Gefahren, leicht wird die Fähigkeit gemindert, Neues warm aufzunehmen, eine gewisse Sättigung macht anspruchsvoll, und die Gewöhnung, nach festgewordenen Ansichten zu urteilen, bedroht mit Einseitigkeit. Deshalb ist besonders bezeichnend für die Tüchtigkeit Julian Schmidts, dass er mit den Jahren nicht absprechender und mürrischer, sondern milder, vielseitiger und anerkennender wurde“. 19

Allmählich etablierten sich die „Grenzboten“; doch erforderte dies eine langwierige, mehr als zehn Jahre andauernde Mühe und Arbeit. Freytag hebt auch hier Schmidts hohen Anteil hervor. In der Darstellung mischen sich sachliche und persönliche Anerkennung: „Das Hauptverdienst aber dieses Erfolges in den dreizehn ersten Jahren herben Kampfes gegen eine öde Reaktion und gegen die Mutlosigkeit und Zerfahrenheit im Volke kommt Julian Schmidt zu, der Regelmäßigkeit seines Fleißes, seiner festen Vaterlandsliebe, dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Tüchtigkeit der Nation und zu der Kraft des preußischen Staats, und seiner tapferen Rücksichtslosigkeit. Er war ein schneller Arbeiter, pünktlich im Abliefern des Manuskriptes, Freude und Trost der Setzer; die Gedanken strömten ihm voll und gleichmäßig aus der Feder, auf den Seiten, die er von oben bis unten zu beschreiben liebte, fand sich selten ein Wort korrigiert. Die Rückseite seiner Konzepte war gewöhnlich mit algebraischen Formeln beschrieben, solches Rechnen trieb er unablässig als Privatvergnügen zur Erholung.“20

Das Verhältnis der beiden Redakteure Schmidt und Freytag war durch Vertrauen und Toleranz geprägt. Die mit dem halbjährlichen Redaktionswechsel verbundenen verschiedenen Arbeitsweisen bildeten kein Problem. Auch in diesem Zusammenhang werden wieder Schmidts Stärken betont: „Mit der Redaktion wechselten wir nach den ersten Semestern halbjährig und da ich einen Teil des Sommers auf dem Lande zubrachte, so machte sich's, dass Schmidt im Sommer, ich im Winter die Redaktionsgeschäfte besorgte, dadurch erhielt jeder von beiden für ein halbes Jahr Muße zu größerer Arbeit. Doch war bei diesem Wechsel nicht zu vermeiden, dass Verschiedenheiten in der Behandlung der Eingänge bemerkbar wurden. Schmidt hatte z.B. eine souveräne Stimmung gegenüber dem Mannigfaltigen, wodurch ein Blatt den Lesern anmutig zu werden sucht, und besserte ungern an dem mangelhaften Stil solcher Artikel, welche aus der Fremde kamen und wegen des zeitgemäßen Stoffes nicht zu verachten waren; ja er schrieb lieber ein halbes Heft selbst, als dass er verstruwelten Gedanken und Sätzen den redaktionellen Bürstenstrich vergönnte.“ 21

In diesen ersten Grenzbotenzeiten wurde ein reger Gedankenaustausch gepflegt: neben den redaktionellen Besprechungen und Themenplanungen für die Grenzboten-Hefte wurde auch in schriftlicher Form (meist gingen in dieser Zeit die Briefe zwischen Freytags Sieblebener Idylle und Leipzig hin und her) zu verschiedensten Angelegenheiten Stellung bezogen: so diskutierte man über aktuelle Gesetzentwürfe des Reichstages, über post-mortem-Schutzfristen für Schriftsteller, die Angelegenheiten der "Grenzboten" wurden erörtert... Aber immer auch Persönliches. Freytag an Schmidt: "Bei mir zu Hause gehts wieder leidlich, Genesung nach einem Nervenfieber geht freilich langsamen Schritt und meine Frau hat noch das Bedürfnis nach der Stille und nur geringer Zerstreuung. Ich hoffe auf das Frühjahr." 22 Später, im Mai 1852, wieder ein langer vierseitiger Brief aus Siebleben: Thema ist der Verleger Grunow, der Freytag keine Grenzboten-Hefte schickte (obwohl das besprochen war), sodass dieser nicht weiß, "was in der Welt vorgeht." Freytag schreibt über das Wetter in Siebleben (Gewitter und Hagel), vom "Geblühe und Gesumse unter den Bäumen" im Garten und den ungeheuren Scharen von Maikäfern, die überall umher schwirren. Freytag erzählt Julian Schmidt vom Fest des Maibaumsetzens im Ort - und zwar ausführlich: "In etwa 4 Wochen, nämlich zu Johanni, wird der gesetzte Baum wieder umgeworfen, da erscheint die Jugend des Dorfes in dramatischem Aufzuge mit allerlei - leider tölpelhaften - Verkleidungen" und vor dem gestürzten Baum wird eine "haarsträubende Musik" dargeboten. Das alljährliche, traditionelle Maibaumritual wird Schmidt auf einer weiteren halben Briefseite plastisch dargestellt, um an den Freund schließlich die Einladung auszusprechen, zu Johanni in Siebleben zu erscheinen: "... dass Sie zu diesem Fest hier unentbehrlich sind. Richten Sie sich so ein, dass Sie um diese Zeit herkommen können. Sie werden einen Teil von Siebleben betrunken sehen, gegenwärtig nicht die schlechteste Methode eines biedern Germanen, sich lebhaft zu erweisen." Der Brief handelt dann wieder von Grenzbotenangelegenheiten und schließt mit warmen Grüßen: "Meine Frau grüßt Sie herzlich und lässt Ihnen sagen, Sie möchten nur nicht zu viel von ihrem Garten erwarten, damit Sie nicht enttäuscht werden." 23 Man sieht an einem solchen Brief die Vertrautheit des Umgangs, es wird über Persönliches und Berufliches gesprochen, Gedankensprünge werden nicht gescheut, weil man weiß, dass der "Briefraum" ein geschützter ist. Hier müssen nicht stringente Gliederung und thematische Ordnung herrschen. Man schreibt so wie es kommt.

Etwa in der Zeit zwischen 1851 und 1855 muss Gustav Freytag eine längere Reise in die Schweiz unternommen haben: ein siebenseitiger undatierter Brief Freytags im Nachlass Julian Schmidts wirft noch einmal ein prägnantes Licht auf das freundschaftlich geprägte Verhältnis beider Männer. Auf diesen Brief soll daher an dieser Stelle ausführlicher eingegangen werden: 24

Der Brief beginnt mit der Anrede „Mein allerliebster Schmidt“ und schließt mit den Worten „Sie aber sollen lieb behalten Ihren Freytag“, wodurch die persönliche Verbundenheit beider Männer deutlich wird. Freytag hatte ursprünglich geplant, Julian Schmidt eine Art „Tagebuch“ seiner Schweiz-Reise zu schicken, was aber durch schlechte Wetterverhältnisse („Sturm, Regen und Nebel“) einerseits sowie dadurch verhindert wurde, dass überraschend Freytags Bruder Reinhold und dessen Gattin die Reisegesellschaft vergrößerten und der ganzen Unternehmung einen mehr familiären Charakter gaben. So erklärt Freytag das Zustandekommen des langen Briefes. 25 Stationen der Reise waren u.a. Rigi, Interlaken, das Berner Oberland und Solothurn. Freytag schildert nun recht humorvoll, dass die „alte Schweiz“ angenehme Landschaften besitze, deren Nachteil nur leider darin bestehe, dass diese bergig seien und man nicht „zwischen“ diesen Gebirgen reisen könne, sondern sich auf schmalen Saumpfaden, Fußsteigen und 3-6 Fuß breiten Steintreppen, welche an gefährlichen Abgründen vorbeiführen („natürlich ohne Geländer“), sich fortbewegen müsse. In lebendiger Weise beschreibt nun Freytag, wie er sich auf beschwerlichen Wegen auf einem Maultier durch die Schweizer Bergwelt bewegte. Dieses „hartnäckige“ Tier sei mit besonderer Vorliebe „gefühllos stundenlang… an der äußersten Kante des Abgrunds“ entlang getaumelt. Dies bezeichnet Freytag dann scherzhaft als „Spazierritt“. Die Belohnung für einen solchen Ritt bestehe darin, dass man auf Wolken herab blicken oder vielleicht jemandem in der Tiefe auf den Kopf spucken könne. „Glauben Sie mir, Schmidt, es ist hart, unter solchen Umständen Natur bewundern zu müssen. Da mir das Bergsteigen nicht gut bekommen wollte, bin ich durch das ganze Berner Oberland geritten… Meistenteils aber musste ich absteigen (z.B. bei einer Tour über den Grindelwaldgletscher) und wurde genötigt an einem schroffen Felsen entlang zu kriechen, … bis ich an eine Eisspalte kam, die ungefähr 10 Fuß breit war und diesmal glücklicherweise nur ca. 600 Fuß tief. Darüber war ein vier Zoll breites Brett gelegt, man hätte ebenso gut auf einem Seil herüberlaufen können, und als das überstanden war, stand man auf einer langen glatten Eiskante und auf beiden Seiten wieder Eisspalten und ein Schafhirt musste mit seiner Hacke erst Fußstapfen längs dem Eisrücken schlagen und unterdes musste man selber sowohl balancieren als ihn am Hosengurt festhalten. Als ich zu dieser Expedition verführt wurde, kündigte mir meine Frau zuerst die Freundschaft auf und kam gleich darauf verzweifelt hinter mir her geklettert… Kurz, man kann sagen, die Natur wird einem recht systematisch durch das ganze Bergsystem verbittert.“ Auch über die Gasthöfe beklagte sich Freytag: es gab ordinären Kaffee (Brasil) mit dünner Milch (statt Sahne). Ein dann noch daneben aufgestellter Honigtopf trieb den Preis für das Frühstück auf stolze 12-16 Franken. Eine Flasche Landwein (trinkbar) kostete 3 Franken, ein gewöhnlicher Bordeaux 24 Franken („das grenzt an Diebstahl“). Die Zimmer in den Gasthöfen waren „schlecht und ohne Comfort, die Bedienung sehr mangelhaft.“ Doch trotz aller Ärgernisse und Hindernisse, so bilanzierte Freytag, waren die Eindrücke, die er in der Schweiz sammeln durfte, „ein guter Erwerb für immer.“ Auf der Rückreise besuchte Freytag noch Straßburg und Frankfurt. Der Brief schließt mit einer Einladung an Julian Schmidt, doch für einige Zeit von Leipzig nach Siebleben zu kommen sowie mit Grüßen an Seybt, Grunow und Günther.

Da Julian Schmidt sich seit dem Jahr 1857 mehr und mehr anderen Aufgaben zuwandte, galt Freytag seitdem als die eigentliche Seele der „Grenzboten“. Schon seit etwa 1855, mit der Verlobung Julian Schmidts, hatte sich das Verhältnis zwischen den Freunden verändert. Jedenfalls trat Freytag in den Jahren 1857-1862 in Gotha und Leipzig in engeren Kontakt mit dem „Patrioten“ Karl Mathy. Zu ihm blickte er „liebevoll empor“: Mathy schien nach und nach die Position Schmidts eingenommen zu haben. 26


Getrennte Wege (1861-1863)

Die Trennung nach 13 Jahren gemeinsamer Arbeit bei den „Grenzboten“ im Jahr 1861 schildert Freytag in seinen Lebenserinnerungen in einer Art, aus der hervorgeht, dass Schmidts Abschied von Leipzig ohne Differenzen oder Verletzungen vollzogen wurde. Julian Schmidts Weggang wird dem Leser mit privaten und sachlichen Gründen erklärt. Auch hier ist der freundschaftliche Duktus der Zeilen Freytags beachtenswert: „Unterdes hatte Schmidt auch sein eigenes Leben redigiert, er hatte sich eine liebenswerte Gattin aus einem niederdeutschen Pfarrhause geworben, sie wurde die Vertraute seiner Gedanken, das beste Glück seines ganzen späteren Lebens. Vergnügt richtete er sich den eigenen Haushalt ein und verlebte von da an meiner Seite einige friedliche Jahre, freilich in doppelt angestrengter Tätigkeit. Die erste Ausgabe seiner Literaturgeschichte war erschienen, sein Ruf als Kritiker festgestellt; auch gesellschaftlich hatte er sich in Leipzig eingelebt, die früheren Tischgenossen Jahn und Mommsen waren fortgezogen, aber Heinrich von Treitschke, damals in blühender Jugend, wurde den Grenzboten ein lieber Gefährte, Freude und Stolz des Kreises, und Karl Mathy kam als Direktor der Kreditanstalt nach Leipzig und wurde ein hochgeschätzter Mitarbeiter. Seitdem gab es wohltuenden Familienverkehr und täglich anregendes Männergespräch, zu dem sich am runden Tisch eine Anzahl gescheiter und tüchtiger Leipziger mit den Grenzboten zusammenfand.

Julian Schmidt hatte der Zeitschrift dreizehn Jahre angehört, als ihm 1861 von Berlin aus der Antrag gestellt wurde, dort unter sehr günstigen Bedingungen die Leitung einer neuen, unabhängigen Zeitung zu übernehmen. Er erhielt dadurch die Aussicht auf eine größere Wirksamkeit und auf festere Stützen seines äußeren Lebens. Als er sich entschloss, dem Ruf Folge zu leisten, da durften seine alten Freunde zwar unsicher sein, ob das Zeitungswesen ihm auf die Dauer gedeihen könne, aber dass er selbst in dem literarischen Treiben der großen Stadt sich ehrenvoll behaupten werde, das war uns allen zweifellos. Die neue Zeitung dauerte nicht, Schmidt aber gewann in der Hauptstadt eine neue Heimat, die ihm lieb wurde. Der kleine Haushalt, in dem er mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welcher sich viele der besten und vornehmsten Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten. Denn durch sein ganzes Leben trug er in sich den Adel einer guten und kräftigen Menschennatur, Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Gesinnung, die Unschuld einer Kinderseele bei gereiftem Urteil und einem hochgebildeten Geiste, als ein reiner und guter Mann ohne Falsch, warmherzig, treu seinen Freunden. Es ist nach seinem Tode 1886 dem älteren Genossen beschieden, hier von seinen Verdiensten um die Grenzboten zu erzählen“. 27
Das ist die rückblickende, geglättete Version jener Jahre. Alles greift (fast harmonisch) ineinander: Julian Schmidts Heirat, seine neue Aufgabe in Berlin, das Auftauchen Mathys...

Ein etwas anders Bild ergibt sich, wenn man Gustav Freytags Briefe an Salomon Hirzel während der Zeit des Wechsels Julian Schmidts nach Berlin liest, in denen die Verlobung und Verehelichung des Freundes thematisiert werden. Der Loslösungsprozess verlief durchaus nicht so konfliktfrei wie es Freytag im Altersrückblick in seinen Lebenserinnerungen darstellte.

Rückblende: Im Jahr 1855 gab es offenbar Gerüchte über eine Verlobung Julian Schmidts. Gustav Freytags Verleger und Freund Salomon Hirzel in Leipzig hatte dies Freytag wohl in einem Brief mitgeteilt. Diese Nachricht löste bei Freytag einige Verwunderung aus: „Von Julian Schmidts Verlobung weiß ich keine Silbe, u. glaubs auch nicht, es wäre zu märchenhaft.“ 28 Offenbar rechnete Freytag damit, dass sich zwischen Salomon Hirzels Tochter Ottilie und Julian Schmidt ein näheres Verhältnis ergebe. Es wurde wohl auch darauf hingewirkt, dass sich vielleicht etwas anbahne, denn Freytag schrieb im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Besuch Schmidts in Siebleben im Sommer 1856 an Hirzel: „Wenn vielleicht Frl. Ottilie ein Interesse hätte, mit ihm zusammen einzutreffen, so ließe sich das ja wohl einrichten.“ 29

Gustav Freytag auf Brautschau für seinen mittlerweile 38-jährigen Freund und Junggesellen? Es sieht so aus. Aber das, was sich zwischen der Pfarrerstochter Elise Fehsenfeld aus Groß Lengden (in der Nähe Göttingens) und Julian Schmidt über Monate entwickelt hatte, war offenbar auch Gustav Freytag verborgen geblieben - denn bereits am 9. Oktober 1856, nur etwa vier Monate nach Freytags Brief an Hirzel, fand die Eheschließung statt! Welche Hoffnungen sich an eine Verbindung zwischen Schmidt und Ottilie Hirzel geknüpft hatten, wird in einem Brief Freytags nach der Verlobung Schmidts mit Elise Fehsenfeld deutlich. Gegenüber Hirzel äußerte er sich: „Schade! Ich hätte es gern gesehen, wenn Frl. Ottilie – doch das ist eine Sache voll Zartgefühl und wird billig eigener Betrachtung eines möglichen Schwiegervaters überlassen.“ 30 Daraus ist ersichtlich, dass die Vorstellungen über eine mögliche Verbindung Schmidts mit Ottilie Hirzel auch auf Seiten von Vater Salomon Hirzel schon konkrete Formen angenommen haben müssen! Zumindest war in diese Richtung gedacht worden. 31

Letztlich aber wurde durch die Hochzeitsvorgeschichte die Freundschaft zwischen Freytag und Schmidt nicht auf Dauer ernsthaft belastet.
Die Eheschließung zwischen Elise Fehsenfeld und Julian Schmidt fand am 9. Oktober 1856 in Groß Lengden statt. Am 7. Oktober verfasste Gustav Freytag, der sich in Leipzig aufhielt und unabkömmlich war, einen langen Brief an seinen jahrelangen Weggefährten, der in einem launig-humorvollen Stil gehalten ist. Hier einige Passagen aus dem Schreiben des Gratulanten Freytag, der Schmidt den Trubel des Hochzeitstages und seine Folgen ausmalt:

"Mein lieber, alter Schmidt!
Dieser Gruß kommt Ihnen möglicherweise am Hochzeitsmorgen, an dem Sie mit kräftiger Verwunderung bemerken, dass Sie Mittelpunkt einer dramatischen Action geworden sind, welche bei allem Golde, was davor und dahinter ist, doch an sich betrachtet, schwierig, lästig und rührend genannt werden muss." Freytag prophezeit seinem Freund ein unaufhörliches Händeschütteln, "man wird zuletzt ein Bündel, welches von einem Arm in den anderen geworfen wird, ein Object für die ehrwürdigen Scherze alter Herren, man wird angepredigt, angesungen" und letztlich in einen "Zustand der Willenlosigkeit" versetzt, in welchem man dann gar "bekränzt und geküsst" wird. "Das wird Ihnen alles passieren, alter Schmidt, und zum letzten Schluss wird gar geflennt. Zu dem und zu anderm nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch. Ich selbst kann nicht kommen, denn ich bin hier in einem nicht beneidenswerten Zustand der Unentbehrlichkeit, aber ich denke oft und viel an Sie und Ihre Zukunft und mit ganzer Seele an das Glück Ihrer Gegenwart. Wie gönne ich Ihnen das. Sie haben auch ein schweres Jahr durchgemacht und Ihr Himmel hing Ihnen gewiss oft finster über dem Kopf,32 was man ihrem schweigsamen Gemüte... anmerkte." Freytag fährt fort, dass nun aber eine milde Hand sein "tyrannisches Gemüt" glätten werde und ein "freundlicher Geruch von milder Anmut" werde über ihn ausgegossen: "Gott, was werden Sie sich ändern, Schmidt!" Freytag geht auf einige Gewohnheiten seines Freundes ein: "Keine zerstauchten Taschentücher einstecken und hübsch auf rauchbare Cigarren halten" und für Spaziergänge solle sich Julian Schmidt an ein "Battisthemd mit Busenkrause und Spitzen" gewöhnen. Dann wendet sich Freytag der jungen Gattin Elise zu: "Dem guten Genius Ihres Lebens, welcher solche mächtigen Revolutionen in Ihnen hervorbringen soll, bitte ich mich und meine Frau herzlichst zu empfehlen. Wir freuen uns sehr darauf, sie hier kennen zu lernen und ihr den schweren Übergang in ein neues Leben so viel zu erleichtern als wir vermögen." Der letzte Satz bezieht sich auf die problematische Leipziger Gesellschaft, vor der Elise Fehsenfeld schon vor der Hochzeit gewarnt wurde und der sie selbst auch bereits etwas skeptisch entgegen sah.

Als Hochzeitsgeschenk schickte das Ehepaar Freytag eine Decke nach Groß Lengden, auf welche Schmidt, als Symbol für die freundschaftliche Beziehung zu Gustav Freytag die "Stühle seines häuslichen Glücks" stellen solle. Die Schlusssätze des Briefes lauten: "Aber ich sehe Sie nebst Ihrer Braut sitzen, leibhaftig, wie eine Turteltaube, sogar die große Brille hat ein schalkhaftes und liebevolles Aussehen. Seien Sie lustig, lieber Freund, empfehlen Sie mich angelegentlich Herrn Pastor und den Damen Ihres Hauses und behalten Sie lieb Ihren getreuen Freytag." 33

Dennoch: in den letzten Monaten vor Julian Schmidts Übersiedlung in die preußische Metropole äußerte sich Gustav Freytag mit einigem Unmut über seinen Freund.

In der zweiten Jahreshälfte 1861 - bis zu Schmidts Weggang sind es also nur noch wenige Monate - beklagte Freytag in einem Brief an Salomon Hirzel vom 26. August die zunehmende geistige „Verwüstung“ Schmidts anhand von dessen soeben erschienenem Werk Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis auf Lessings Tod 1681-1781: „Unterdes ist das erste Heft von Schmidts Neuerer Literaturgeschichte erschienen, mir 3fach interessant, weil es dieselbe Zeit behandelt, mit welcher ich mich herumgeschlagen habe. Nun kann ich meine flüchtige Arbeit durchaus nicht neben seine eingehende stellen, aber aus dem Wenigen, was ich bis jetzt von seinem Buch habe lesen können, sehe ich doch, dass die Verwüstung in ihm fortschreitet. Es sind wieder brillante Stellen darin, aber so vieles Flüchtige und Saloppe, und so eine nachlässige, zuweilen rohe Sprache, dass das Buch doch einen trüben Eindruck zu machen droht. Das nur unter uns.
Ich selbst bin dadurch und durch anderes innerlich tief verstimmt, und das ist der Hauptgrund, dass … ich Ihnen nicht geschrieben habe. Es ist doch eine traurige Erfahrung, die ich mache, dass zwei Verhältnisse zu andern Menschen, die ich gewissermaßen mit meinem Leben verbunden, mir so wenig Probe halten. Wie mit Schmidt auf der einen, geht es mit dem Herzog auf der andern Seite.“  34

Innerlich tiefe Verstimmung. Menschen, die Freytag mit seinem Leben verbunden hatte, haben nicht "Probe" gehalten. Nach Jahren des Miteinander bleiben seelische Verwundungen zurück. Der Herzog und Julian Schmidt. Der eine residierte in Gotha, der andere schlug sich in Berlin durch. Der "getreue Freytag" hielt Stand, in Leipzig, bei den "Grenzboten". Schmidts Briefe in dieser Zeit empfand Freytag als „Divertissement“ 35 (also als Vergnügen und Unterhaltung) – das äußerte er Hirzel gegenüber im Oktober 1861, als ihm bekannt war, dass Schmidt zum 1. Januar 1862 nun endgültig nach Berlin gehen werde. Schmidts Verabschiedung von Leipzig, die "Orgie", wollte sich Gustav Freytag nicht entgehen lassen. 36

Die Verlobung Julian Schmidts mit Luise Fehsenfeld und die sich daran anschließenden Ereignisse hatten also einen Schatten auf die Freundschaft geworfen. Zwar äußerte sich Freytag in seinen Lebenserinnerungen nicht kritisch über diese „Verlobungszeit“, doch in den Briefen an seinen Verlegerfreund Salomon Hirzel wurde doch eine gewisse Entfremdung zwischen ihm und Schmidt deutlich. So berichtete Freytag im Juli 1863 anlässlich eines Wiedersehens mit Julian Schmidt in Leipzig: „Ich fand Schmidten daselbst vor, es war ein kühles, verständiges Wiedersehen. Kitzing hielt eine große politische Sitzung bei Aeckerlein …, wobei Treitschke eine so stürmische u. feurige Rede hielt, dass der Kitzing in eine tapfere Begeisterung geriet u. der anwesende Schmidt in das allertiefste u. achtungsvollste Schweigen versank.“ 37 Empfand Freytag Genugtuung darüber, dass es Julian Schmidt die Sprache verschlug? Dass er gegenüber dem sprachgewaltigen Treitschke die Empfindung hatte: hier spricht ein Redegewandterer? Es würde zu der unterkühlten Begegnung passen, dass Freytag das achtungsvolle Schweigen Schmidts so interpretierte...

Neujahr 1862: Die räumliche Trennung Julian Schmidts von Gustav Freytag war also vollzogen. Schmidt suchte eine neue Aufgabe und es zog ihn nach Berlin, in die Metropole. In seinen Lebenserinnerungen äußerte sich Freytag über den Weggang seines Freundes: „Julian Schmidt hatte der Zeitschrift 38 dreizehn Jahre angehört, als ihm 1861 von Berlin der Antrag gestellt wurde, dort unter sehr günstigen Bedingungen die Leitung einer neuen, unabhängigen Zeitung zu übernehmen. 39 Er erhielt dadurch die Aussicht auf eine größere Wirksamkeit und auf festere Stützen seines äußeren Lebens. Als er sich entschloss, dem Ruf Folge zu leisten, da durften seine alten Freunde zwar unsicher sein, ob das Zeitungswesen ihm auf die Dauer gedeihen könne, aber dass er selbst in dem literarischen Treiben der großen Stadt sich ehrenvoll behaupten werde, das war uns Allen zweifellos.“ 40

 


Jahre der Verbundenheit (1863-1876)

Über die Kontakte zwischen Schmidt und Freytag nach der Übersiedlung Schmidts nach Berlin ist die Quellenlage nicht sehr breit, aber es zeichnet sich ein deutliches Bild ab. Spätestens im Herbst des Jahres 1861 wusste Gustav Freytag von Julian Schmidts beabsichtigter Übersiedlung nach Berlin zum bevorstehenden Jahreswechsel. Auch wenn sich von nun an die Wege beider Männer zumindest räumlich trennten, so hat doch offensichtlich stets eine recht kontinuierliche Verbindung zwischen den beiden Grenzboten-Freunden bestanden. Dies belegen Briefe Freytags, die sich im Nachlass Julian Schmidts in der Staatsbibliothek zu Berlin finden. Über einen längeren Zeitraum verstreut (das letztdatierte Dokument stammt aus dem Jahr 1884) hat Gustav Freytag mit Julian Schmidt korrespondiert – und die Anreden und Grußformeln Freytags lassen darauf schließen, dass zwischen beiden Männern ein weiterhin freundschaftliches, zumindest jedoch respektvolles Verhältnis bestanden hat. So verwendet Freytag in seinen Briefen an Julian Schmidt die Anreden „Lieber Schmidt“ oder „Liebster Schmidt“ , „Mein allerliebster Schmidt“ und „Lieber treuer Schmidt“. Auch die Anreden „Mein lieber Freund“ und „Lieber treuer Schmidt“ finden sich. In dem letztdatierten Dokument des Nachlasses, einer Postkarte vom Juli 1884, verwendet Freytag die Anrede „Geliebter Freund“. 41

Auch wenn man einen Blick auf die Grußformeln der erhaltenen Schreiben Freytags an Schmidt wirft, zeichnet sich ein einheitliches Bild ab: Freytag schließt seine Briefe u.a. mit „herzliche Grüße von ihrem getreuen Freytag“ , „Ihr treuer Freytag“ oder „Ihr alter treuer F.“ 42

Nun mag man einwenden, dass Grußformeln eben "Formeln" sind und insofern nichts aussagen über wirkliche Gefühle und keinen Hinweis geben können, wie es um die Beziehung beider Männer im Ernste bestellt war. Doch findet man sich in den sprachlichen Duktus der Briefe Freytags hinein und berücksichtigt zudem das, was inhaltlich verhandelt wurde, so bleibt als Fazit: es bestand eine enge, vertraute Beziehung zwischen Julian Schmidt und Gustav Freytag auch nach Schmidts Weggang nach Berlin. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

Die im Nachlass Julian Schmidts vorhandenen Dokumente thematisieren politische und schriftstellerische Fragen, aber auch Persönliches. Eine zentrale Stellung nimmt die Krise bei den "Grenzboten" ein. Darüber gibt es einen eng beschriebenen vierseitigen Brief vom 29.12.1870. Doch der Reihe nach.

Am 1. Januar 1862 erschien die „Berliner Allgemeine Zeitung“ zum ersten Mal - Julian Schmidt war ihr Redakteur. Zu den Mitarbeitern gehörte der damals junge Wilhelm Dilthey. 43 Ein Erfolg der Zeitung war nur schwer möglich, denn die altliberale Partei war gespalten: sie war in der damals politischen Hauptfrage des Tages, der Militärreorganisation, oppositionell; zudem war bei der Abgeordnetenhauswahl vom November 1861 mit der „Fortschrittspartei“ eine demokratisch starke Kraft aufgetreten, von der sich die Altliberalen allerdings unterscheiden wollten. Dies zementierte offenbar deren isolierte Stellung. 44

Julian Schmidt war kein "politischer Kopf": Taktieren und Kalkulieren waren ihm ebenso fremd wie diplomatisches Geschick. Er war also eigentlich der denkbar ungünstigste Redakteur für die altliberale “Berliner Allgemeinen Zeitung”. Vier Wochen nach ihrem Erscheinen lag die Zeitung „mit aller Welt im Streit.“ Das Niveau der BAZ besserte sich zwar, als Schmidt „das große publizistische Talent“ Alexander Meyer für die Redaktion gewann, doch aufgrund finanzieller Engpässe wurde ihr Erscheinen im Jahr 1863 eingestellt.

„Schmidt aber gewann in der Hauptstadt eine neue Heimat, die ihm lieb wurde. Der kleine Haushalt, in dem er mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welcher sich viele der besten und vornehmste Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten.“ 46 Auch Gustav Freytag gehörte in den folgenden Jahren zu den regelmäßigen Besuchern im Haus Julian Schmidts in Berlin, wie z.B. aus den Lebenserinnerungen des Schriftstellers Ludwig Pietsch hervorgeht. Er charakterisiert Gustav Freytag, den er dort antraf, in folgender Weise:

„Dem Dichter von Soll und Haben, Die Journalisten und Valentine, dem ich seit Jahren so große, reine geistige Freuden dankte, brachte ich eine innige Verehrung entgegen. Seine Erscheinung freilich war von allem frei, was auf einen gottbegnadeten Poeten hinweist, wenn sie auch den klugen Kopf, den tüchtigen und grundgediegenen Mann in jedem Zuge verriet. Sein Auftreten und Bezeigen war kühl und reserviert. Nichts darin erinnerte an das Naturell und den Typus seiner Lieblingshelden v. Fink und Konrad Bolz. Aber die innere Wärme leuchtete dennoch, wenn sich der rechte Anlass bot, erkennbar genug durch die Umhüllung mit Gelassenheit, Ruhe und Gleichmut hindurch. Auch der behagliche Humor, die frische Munterkeit, welche jene Dichtungen würzen, zuckten damals noch zuweilen in seinen Zügen, blitzten aus seinen grauen Augen und äußerten sich in manchem hübschen sinnreichen Ausspruch, in mancher ironischen heiteren Betrachtung, in mancher treffenden lustigen Schilderung von Erlebnissen und Beobachtungen von Menschen und Dingen, mancher fesselnden kleinen Erzählung. Der kecke Übermut jener seiner populärsten Charakterfiguren freilich, die so ganz den Eindruck machen, als hätte ihr geistiger Schöpfer selbst dazu Modell gestanden, schien ihm, dem damals Zweiundvierzigjährigen, völlig abhanden gekommen oder mit bewusster Absicht von ihm abgelegt zu sein.“ 47

Wann genau Pietsch diese Begegnung mit Freytag im Haus Julian Schmidts hatte, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich aber fand sie relativ bald nach Schmidts Eintreffen in Berlin statt, wie die Datierung Pietschs nahelegt. Vielleicht wird aber auch ein Bild Freytags gezeichnet, das sich aus mehreren Begegnungen zu einem Ganzen formte. Es fällt auf, dass Freytag offenbar eine Umhüllung trägt, dass er sein Seelisches verbirgt und hinter einer Kühle und Reserviertheit versteckt. Vielleicht war er aber auch (noch) verletzt durch die zurückliegenden Ereignisse. Vielleicht traute er sich nicht, wieder sein Leben mit einem Menschen zu verbinden. Wir erinnern uns an seine von ihm als schicksalhaft erlebte Enttäuschung mit Julian Schmidt und dem Herzog von Gotha.

Zu Beginn der 60-er Jahre hat sich Freytag zudem von den literaturkritischen Arbeiten Schmidts, welche „von polemischer Radikalität“ waren, kritisch distanziert. Schmidts Vorbild waren jetzt die Romane von Dickens und Scott. (Aber auch Freytags Roman Soll und Haben). „Kritisch betrachtete er die Weimarer Klassik. Er verwarf die Literatur der Romantik und des Vormärz.“ Die „Experimentierfreude“ eines Karl Gutzkow bewertete Schmidt negativ. 48 Eine Richtung, die Freytag nicht unbedingt teilte. Dennoch: Kontakte blieben bestehen und wurden gepflegt, auch persönlich. Zum Beispiel im Juli des Jahres 1864: das Ehepaar Schmidt besuchte die Freytags in Siebleben. Freytag blickt zurück: „Ich bin in diesen Tagen durch Schmidts Besuch um anderthalb Tage bemaust worden. Er u. seine Frau beide sehr behaglich mit sich zufrieden u. wie mir scheint unbesorgt um die Zukunft.“ 49 Nach der "kühlen" Begegnung des Vorjahres also wieder eine "Erwärmung" der persönlichen Beziehungen?

Ludwig Pietsch erwähnt in seinem Erinnerungsbuch wohl ebendiese Reise aus dem Jahr 1864, die ihn, seine Gattin Marie und das Ehepaar Schmidt nach Thüringen führte 50: „Julian Schmidt beabsichtigte mit seiner Frau eine Sommerreise nach der Schweiz auszuführen. Unterwegs aber gedachte er in Siebleben und Eisenach haltzumachen, um dort Gustav Freytag, hier Fritz Reuter zu besuchen. Da ich selbst den dringenden Wunsch hatte, letzteren persönlich kennenzulernen und mit ihm das Unternehmen der illustrierten Ausgabe von Ut mine Stromtid zu besprechen, so hielt ich es für das geratenste, mich Schmidts anzuschließen. Aber auch meine Frau sollte und musste den Spender unserer besten Freuden sehen und ihm danken. So begleitete auch sie mich bis Eisenach.“ 51. „An einem schönen Julimorgen trat ich mit meiner Frau und dem Julian Schmidtschen Paar die Reise nach Thüringen an. Eine in fröhlicher Laune gemachte Eisenbahnfahrt brachte uns nachmittags nach Gotha.“ 52 „Während Schmidts nach Siebleben fuhren, wanderten ich und meine Frau nach Friedrichsroda, übernachteten dort … und wanderten über Ruhla und die Hohe Sonne zur Wartburg und stiegen, als der Tag sank, durch die kühlen Buchenhallen und Felsgründe zu Fritz Reuters Häuschen gegenüber dem Kirchhof von Eisenach hinab. Es war noch nicht die später von ihm erworbene (oder für ihn erbaute) stattliche Villa, sondern ein einfaches trauliches Landhaus mit einem Gärtchen. Schmidts fanden wir bereits eingetroffen und das Reutersche Ehepaar auf unsere Ankunft vorbereitet. Der Empfang, der uns dort wurde, war der allerherzlichste.“ 53

Unbeschwerte Sommertage. Dennoch: Freytag empfand es so, als hätten die Schmidts seine Zeit "gemaust". Er hätte also Besseres zu tun gehabt, als die Zeit mit Julian und Elisabeth Schmidt zu verbringen? Die Schmidts wollten weiter in die Schweizz, wahrscheinlich zur Erholung: damals lagen Schweiz-Reisen "im Trend": Goethe war dorthin gereist, um die imposante Landschaft zu erleben; es gab im 19. Jahrhundert zahlreiche Monographien, in denen Dutzende von Schweizreisenden von ihren Erlebnissen berichteten. Auch Freytag war einige Jahre zuvor in der Schweiz gewesen und hatte Schmidt - wie oben dargestellt - einen langen Brief geschrieben.

Doch halten wir fest: es ist keine günstige Zeit in der Beziehung zwischen Schmidt und Freytag. Sorgen um die Zukunft der "Grenzboten" überwiegen bei Freytag. Er kann das Ehepaar Schmidt nicht in unbeschwerter Fröhlichkeit empfangen. Rückblickend aus dem Jahr 1864 schrieb Freytag an seinen Freund Salomon Hirzel: „Ich habe kein Glück mit meinen Grenzbotenleuten. Schmidt wurde unmöglich, und Busch kommt in denselben Fall. Und doch glaube ich nicht, dass ich eine andere wesentliche Schuld habe, als sie gewählt und nicht genug mit ihnen zusammengelebt zu haben. Das letztere war nicht zu vermeiden.“ 54 Das Lebens-Motiv taucht wieder auf: diesmal anders. Freytag erwägt, er habe nicht genug "Leben" investiert; zuvor hörten wir, dass er sich sehr wohl lebendig verbunden hatte. Hier wird ein schwieriges Thema berührt: Vertrauen und Verletzlichkeit. Die Grenze zwischen beiden ist sensibel, eine dünne Membran...

Schmidt wurde unmöglich - ein durch seine viele Interpretationen zulassende Offenheit fast abgründiger Satz. Von Schuld ist die Rede, von Wahl und (zu wenig) Zusammenleben. Vieles mischt sich hier, was zu einer Entfremdung zwischen Schmidt und Freytag geführt hat. Es scheint ein untergründig schleichender Prozess gewesen zu sein, etwas, was im Zusammen-Leben vielleicht verloren gegangen ist... Doch: was ist das Maß, mit dem man messen kann, ob man zu wenig zusammen gelebt hat oder nicht?

Aber das Verhältnis zwischen den alten Weggefährten klärt sich. Wenn die Lücken zwischen den Briefen Freytags im Nachlass Schmidts auch groß sind, bleibt unbestritten: es hat offenbar immer Briefe gegeben, die gewechselt wurden. Das "Leben" wurde weiter gelebt. Gemeinsames, durch identische Interessen Entstandenes, blieb Gegenstand der Kommunikation. Ganz wesentlich: die "Grenzboten". Man darf sagen: diese Zeitschrift war die "alte Liebe" Schmidts und Freytags.


Über die Schwierigkeiten mit Moritz Busch als Nachfolger Julian Schmidts bei den „Grenzboten“ hatte sich Gustav Freytag wiederholt in seinen Briefen an Salomon Hirzel geäußert; insbesondere die Unzuverlässigkeit Moritz Buschs in Bezug auf gemachte Zusagen sowie seine politisch nicht immer eindeutige Positionierung bereiteten Freytag Kummer und reizten seine Nerven. Mal war es Buschs Wankelmut, mal der Einfluss seiner Gattin, wodurch die Verhältnisse ins Schwanken kamen – und so waren Freytag mit „seinen“ Grenzboten“ manche Mühen auferlegt, um eine Kontinuität in die Redaktionsarbeit zu bringen. Als Alternative zu Moritz Busch hatte Freytag 1864 den Redakteur der „Weserzeitung“, Alexander Meyer, im Auge, welcher allerdings „in der letzten Zeit das Talent der Schmidtschen Zeitung“ (d.h., der „Berliner Allgemeinen Zeitung“) war. Meyer erschien Freytag „in seiner Art“ als „Genie, freilich ein brünetter Schmidt. Aber das größte journalistische Talent, das ich kenne.“ Freytag erwog, Meyer für die „Grenzboten“ anzuwerben, konnte sich aber nicht sofort entschließen zu handeln. 55 Auch die umfangreiche Korrespondenz, welche durch die Redaktionsangelegenheiten der „Grenzboten“ zu erledigen war, machte Freytag zu schaffen. Und immer wieder: die Klage über Buschs Unzuverlässigkeit: „Ein Artikel, den ich mir abgerungen u. zur Zeit gesandt, ist von Buschio wieder nicht abgeholt worden u. in der Buchhandlung liegen geblieben.“ Das erregte Ärger bei Freytag. 56 „Wegen Busch“ korrespondierte er im Sommer 1864 auch mit Julian Schmidt. Alexander Meyer hatte zuvor eine Mitarbeit bei den „Grenzboten“ abgelehnt – und nun plötzlich eröffnete sein Freund Julian Schmidt Freytag, er hätte „nicht übel Lust die Grenzb. zu übernehmen!" Aber "das muss ihm ausgeredet werden. Er will sie mir abkaufen. Wie mir scheint. Womit? Das Blatt ist jetzt gar nicht zu verkaufen.“ 57 Es ist an dieser Stelle nicht zu beurteilen, was zu dieser „Turbulenz“ um die „Grenzboten“ führte: wollte Schmidt, in Berlin tätig, seinem alten Weggenossen Freytag zu Hilfe kommen, indem er plötzlich überraschend anbot, die „Grenzboten“ zu übernehmen? Anscheinend verfügte er aber nicht über die Mittel dazu. Oder hatte die persönliche Begegnung der Ehepaare Schmidt und Freytag im Sommer 1864 in Siebleben bei Schmidt dazu geführt, sich dem alten Weggefährten gegenüber moralisch verpflichtet zu fühlen? Was auch immer: das Jahr 1864 war von seelischen Turbulenzen geprägt. Vieles schwankt hin und her: die "Grenzboten" sind Freytags Herzensangelegenheit, sein Umfeld teilt seine Sorgen offenbar nicht, empfindet nicht ein solches Maß an Verantwortung für die Zeitschrift wie er.

Nach der Ablehnung Alexander Meyers kam Max Jordan als Stellvertreter ins Gespräch, doch fand dieser nicht den Beifall Julian Schmidts: „Mit Jordans Stellvertretung ist er sehr unzufrieden, weiß aber niemand andern.“ 58 - (Hatte Schmidt mit zu entscheiden? Offenbar gab er zumindest Ratschläge, die ernst genommen wurden. Er hatte immer noch seine 1849 erworbenen Eigentumsanteile an den "Grenzboten", die Hälfte des "Kuranda-Anteile"; die andere Hälfte besaß Freytag. Die restlichen 50% gehörten dem Verleger Friedrich Wilhelm Grunow59). - Gustav Freytag erwog nun - er hörte offenbar auf das Urteil seines alten Weggenossen - , sich an Wilhelm Lang, den Redakteur des „Schwäbischen Merkur“, zu wenden. Doch schließlich kam es nach „langen und nicht durchweg erfreulichen Verhandlungen“ mit Busch und Schmidt zu einer Einigung, welche dem schwankenden Busch – bis zum Antritt Jordans – einige Pflichten auferlegte. 60 Wie hat man sich diesen Prozess der "Pflichtenauferlegung" für Busch, diese nicht durchweg erfreulichen Verhandlungen vorzustellen? Korrespondierte man intensiv - oder fand man sich gar persönlich zu einem Dreiergespräch zusammen? Vielleicht sogar im Sommer, als Schmidt in Siebleben auftauchte? Die Aufregungen mit den „Grenzboten“ lösten jedenfalls im September 1864 bei Freytag eine Nervenentzündung, von den Zähnen herrührend, aus, welche ihn einige Tage daran hinderte zu arbeiten. „Unter dem Schutz der Watte vermag ich wieder zu arbeiten. Die leidigen Grenzboten!“ 61

Am 2. Juli 1865 wandte sich Freytag wiederum (in einem dreiseitigen Brief) an Schmidt. Freytag schreibt aus Leipzig: "Liebster Schmidt." Er hatte gehofft, Schmidt könne selbst nach Leipzig kommen. Freytag hat schon die Zugverbindungen gesichtet und spekuliert, wann Schmidt eintreffen könnte. "Heut habe ich bei strömendem Regen die Hoffnung aufgegeben." Hoffnung, Erwartung, dass der andere kommen möge. Anschließend erläutert Freytag die Jahresabrechnung 1864 für die "Grenzboten"; Schmidt erhält einen Betrag von 1650 Talern, den Gewinn aus seinen Eigentumsanteilen: "Die Rechnung habe ich durchgesehen und nichts Auffallendes darin gefunden." 62 Das klingt vertraut. Rechnung geprüft und für gut befunden. Danach wird zu anderen Punkten übergegangen: Über Grunows kirchliche Einstellung beklagt sich Freytag. Grunow habe sich über gewisse Artikel in den "Grenzboten" beschwert, die nicht mit seiner religiösen Haltung übereinstimmten. Bevor er sich dann kurz zur politischen Lage äußert (Schleswig-Holstein-Frage), erwähnt Freytag eine Reparatur im Haus in Siebleben, "welche uns gezwungen hat auf Holzstützen zu laufen und zu schlafen." - Da ist er wieder, der Briefraum, in den sich assoziativ, sprunghaft die den Schreiber bewegenden Gedanken hinein ergießen. Der Empfänger wird daran keinen Anstoß nehmen... "Ich hoffe, Sie in diesem Jahr noch in Berlin zu sehen. Behalten Sie lieb Ihren treuen Freytag." Neue Wertschätzung. Die Krise während der Verlobungszeit Schmidts und dessen Wechsel nach Berlin scheint überwunden. Auch der Gemahlin Elisabeth werden "Huldigungen" übermittelt. 63

Der Brief vom 2. Juli ist deshalb interessant, weil er zeigt, dass bei allen Kümmernissen und Aufregungen um die "Grenzboten", die Freytag in dieser Zeit belasteten, die Beziehung zu Julian Schmidt sich nicht nur auf ökonomische und geschäftliche Dinge reduziert hat: die Prüfung der Eisenbahnverbindungen, dann ein Apercu aus dem Sieblebener Alltag, die Hoffnung auf ein Wiedersehen in Berlin - all dies zeigt, dass sich im Jahr 1865 wieder eine lebendige, auch Persönliches berührende Korrespondenz entwickelt hat. Vielleicht hat die Grenzboten-Krise von 1864 gezeigt, dass man sich aufeinander verlassen kann...

Wenn am 10. August 1865, nach einem in unangenehmer Stimmung mit Moritz Busch verbrachten Tag, Freytag an Salomon Hirzel schreibt: „Kaum bin ich mit Julian zu Ende, so fängt der Tanz mit Moritzen an“ 64 - so bezieht sich das auf die Probleme bei den "Grenzboten", in welche Schmidt zu jenem Zeitpunkt nicht involviert war.

Im Jahr 1867 weilte Gustav Freytag in Berlin, und zwar in der Funktion als thüringischer Abgeordneter des konstituierenden Reichstages des Norddeutschen Bundes. „Aus Erfurt wurde mir der Antrag gestellt, ich möge mich einer Wahl unterziehen.“ Obwohl Freytag sich nicht als Politiker zu wirken berufen fühlte, gab er doch dem Drängen seiner Freunde nach und kandidierte für die „Nationale Partei“. 65 Doch der Schriftsteller sah sich im Beruf des Politikers deplatziert. Freytags Reichstagstätigkeit währte nicht lange, und zwar nur von Ende Februar bis Mitte April des Jahres 1867. Dennoch empfand er seine Berliner Zeit als wertvoll. Er fühlte sich in der großen Stadt schnell heimisch und war belebt „durch den fast überreichen Verkehr mit alten und neuen Genossen.“ Namentlich wird in den „Erinnerungen“ nur ein gewisser von Normann genannt, welcher dem Kabinett des Kronprinzen vorstand. 66 In einem Brief vom 5. März 1867 an seinen Verleger Hirzel berichtete Freytag von einem Treffen mit „alten Freunden“ bei Theodor Mommsen; auch bei Moritz Haupt wurden im Rahmen einer kleinen Gesellschaft Bekanntschaften aufgefrischt, so mit Georg Beseler und Friedrich Adolf Trendelenburg. „Schmidt habe ich einmal vergebens aufgesucht.“ 67 Etwa 6 Wochen in Berlin - aber offenbar nur ein Besuch bei Julian Schmidt. Er war nicht zuhause.

Im Nachlass Julian Schmidts datiert der nächste Brief Gustav Freytags erst wieder aus dem Jahr 1869. Am 29. Dezember berichtete Freytag aus Leipzig über seine Arbeit an der Biographie Karl Mathys 68 und äußerte, er würde sich freuen, Schmidt in Leipzig begrüßen zu dürfen. 69

Fast ein Jahr später ein weiterer Brief. Vom 29. November 1870. Vier eng beschriebene Seiten; sogar auf dem Rand der letzten Seite finden sich Sätze in gedrängter kleiner Schrift. Der gesamte Brief ist in sauberer Handschrift verfasst, ein Ausdruck für die Konzentration bei dessen Abfassung. Es geht um "die Tragödie der Grenzboten", über die Julian Schmidt zu berichten Freytag "als eine Freundespflicht" auffasst. Freytag will sich in summa auf das Wesentlichste beziehen, "Ausführliches" will er "in Berlin erzählen." Auch dieser Brief ist ein beeindruckendes Dokument für die zwischen Freytag und Schmidt herrschende Vertrautheit, denn ausführlich stellt Freytag dem Berliner Freund die Konflikte und Probleme der "Grenzboten" dar, insbesondere die Schwierigkeiten, welche er mit dem Verleger Friedrich Wilhelm Grunow hat. Eigentlich sind das interne Mitteilungen, Vertrautes aus der Redaktion...
Freytag beklagt die unzureichende Bezahlung der Redakteure, die Tatsache, dass auch er selbst über längere Zeit kein Gehalt bekommen habe. Es geht, wie schon zuvor 70, um die religiösen Gefühle Grunows. Dieser hatte offenbar befürchtet, dass diese durch Grenzbotenartikel verletzt werden könnten. Freytag versuchte Grunow klar zu machen, dass die "Grenzboten" künftig religiöse Themen nicht aussparen könnten. Der Brief dokumentiert das zähe und verzweifelte Ringen Freytags mit Grunow um seit Jahren latente Fragen der inhaltlichen Ausrichtung der "Grenzboten" sowie die künftige Linie der Zeitschrift. Freytag erwägt, evtl. "ein neues Blatt" zu gründen ("hervorzurufen") oder Grunow seine Hälfte an den "Grenzboten" abzukaufen. (Dies würde aber wohl scheitern, da Freytag nach eigenen Worten nur 8.000 Taler bieten könnte). Zwar hatte Grunow zuvor ("als wir noch in ruhiger Zeit waren") wohl diesen Betrag als akzeptabel erachtet, dann aber offenbar von 8.500 Talern gesprochen: "Da war ich fertig mit ihm". Dann berichtet Freytag, wie er schließlich gemeinsam mit Jordan bei einer Versteigerungsaktion 13.200 Taler für die "Grenzboten" angeboten habe, von Grunow aber knapp - um 100 Reichstaler - überboten wurde. Julius von Eckardt, der auch Teilhaber an den "Grenzboten" war, kehrte für die Versteigerungsaktion eigens aus Paris zurück: die Versteigerung der "Grenzboten" ("düstere Abendszene in Jordans Zimmer mit zwei rechtskundigen Sekundanten") ist auch Eckardt in keiner guten Erinnerung geblieben. 71

Das war ein harter Einschnitt für Gustav Freytag, "ein Schlag" - zumal Grunow nach diesem Coup die Redaktion in fremde Hände legte. Zum Jahresende 1870 verließ Freytag die "Grenzboten". Eine bittere Konsequenz. Er muss es wie eine Vertreibung empfunden haben.

Als Freytag am 29.11. den erwähnten langen Brief an Schmidt schrieb, lagen zwei schwere Jahre hinter ihm. Die Zeit seit 1869 war von einem zunehmenden körperlich-geistigen Leiden seiner Ehefrau Emilie gekennzeichnet (sie starb am 13. Oktober 1875). Im Frühherbst 1870, in der Zeit vom 1.8.-10.9., hatte sich Freytag beim Frankreich-Feldzug auf Wunsch des Kronprinzen Friedrich, mit dem er befreundet war, dessen Hauptquartier angeschlossen und begleitete dieses als Kriegsberichterstatter. Stationen seiner „Reise“ während des deutsch-französischen Krieges waren Wörth, Sedan und Reims. In Reims nahm Freytag dann, des müßigen Umherziehens müde, Urlaub.

Müde. Die Krankheit der Gattin, der Feldzug, der Verlust der "Grenzboten" - Freytags Vertreibung. Glücklicherweise gründete Freytags Freund Hirzel eine neue, wöchentlich erscheinende Zeitschrift, die unter dem von Freytag erdachten Namen „Im neuen Reich“ ab dem 1.1.1871 erschien.

Alfred Dove wird am Ende des Briefes vom 29.11.1870 als neuer Redakteur erwähnt, der sich nach Freytags Meinung "sehr gut" in dieser Aufgabe zurecht finden werde. Der Brief schließt mit einer - überraschenden - Bitte Freytags an Schmidt: "Für dies Blatt nun möchte ich Sie, mein alter Schmidt, werben. Kommen Sie wieder zu uns... Es wäre für die Literatur der Deutschen ein Vorteil, wenn Ihre Feder sich wieder in strenger und stolzer Kritik heilsam erweise... Überlegen Sie sich das und schreiben Sie mir." 72
Julian Schmidt blieb aber in Berlin. Er wollte nicht ins Neue Reich.

 


Herzensfreunde (1876-1886)

Nach dieser dramatischen Wendung im Schicksal der "Grenzboten" gibt es in der Briefsammlung im Nachlass Julian Schmidts eine Lücke von sechs Jahren. Doch der nächste erhaltene Brief Freytags vom 13.9.1876 zeigt, dass er aus einem laufenden Austausch verfasst wurde, die Briefe im Berliner Nachlass also nicht vollständig erhalten sind: "Mein lieber Freund, danke Ihnen von Herzen für Ihren Gruß. Es war diesmal eine ernste Mahnung, obwohl die Niederlage nicht unerwartet kam u. auch nicht lange währte. Die Lungen versprechen, wenn sie fortan gut befeuchtet werden, noch einige Zeit zu dienen, wie lange? Am nächsten schönen Tage will ich nach Siebleben, ich war gerade im Aufbruch dorthin, als es mich niederwarf..." Der Brief endet mit den Worten: "Halten Sie sich stramm und grimmig, mein Herzensschmidt, grüßen Sie Ihr liebes Gemahl. Gutbleiben Ihrem treuen Freytag." 73

Eine neue Nähe: Herzensschmidt. In diesem Wort äußert sich starke Zuneigung. 1876 - im Jahr zuvor hatte Freytag seine Frau verloren. Spielt darauf der Ausdruck an, dass die Niederlage, die Krankheit, nicht unerwartet kam, weil Freytag lange Monate zuvor gelitten hatte? War im Zusammenhang mit dem Tod der Emilie Freytag die Beziehung zwischen beiden Männern enger geworden? Leisteten die Schmidts tröstenden Beistand? Jedenfalls überrascht der Ausdruck Herzensschmidt, signalisiert er doch eine größere Nähe als die Bezeichnung Freund. 

Fast dreißig Jahre kennen sich Schmidt und Freytag nun schon, sie sind inzwischen ältere Herren geworden, für die die Gesundheit ein wichtiges Thema darstellt. "Lieber Schmidt, Ihr Brief traf mich hier, wohin mich die Doctors wieder spediert haben, damit ich dem kalten Winter in Leipzig aus dem Wege gehe." So beginnt zwei Jahre später ein Brief aus Wiesbaden. "Bis December war ich in Siebleben, von da noch einmal in Schlesien." Freytag, mittlerweile 62 Jahre alt, hat seinen Sommeraufenthalt in Siebleben deutlich ausgedehnt. Der Besuch in Schlesien - führte er ihn vielleicht an Orte seiner Kindheit und Jugend? Seit 1858, als sein Bruder Reinhold überraschend starb, war Gustav Freytag der letzte Lebende seiner Familie. "Es geht mir nicht grade schlecht, in Stunden stiller Größe treibe ich die alte Schreiberei. Mich wundert zuweilen, dass ich alt werde, und ich kann nicht sagen, dass es mir besonders wohltut, wenn ich einmal als würdiger Veteran behandelt werde. Doch wohne ich seit meiner letzten Krankheit auf dieser alten Erde... ohne contractliche Sicherheit u. kann, wenn ich einmal zu sehr randaliere, sofort exmittiert werden." 74 Damit endet das erste Drittel des dreiseitigen Briefes. Die Gesundheitsfrage steht am Anfang, von sofortiger Exmittierung ist die Rede: Freytag fühlt die Nähe des Todes; die schriftstellerische Arbeit, alte Schreiberei, geht auch nicht mehr selbstverständlich von der Hand.

Es folgt eine Seite über die anstehende Schillerpreis-Verleihung. 75 Dann schließt der Brief: "Lebe ich, so komme ich in diesem Jahr nach Berlin. Nicht gerade wegen der Preisverteilung, wohl aber, um alte Freunde wiederzusehen. Vor andern meinen lieben Schmidt, einen guten u. sicheren Freund, an den ich oft denke. Liebes Herz, grüßen Sie Ihr Gemahl von einem ihrer treusten Verehrer und bleiben Sie gut Ihrem getreuen Freytag." 76

Ein emotionaler Schluss: Todesnähe (lebe ich noch) und Freundschaft (das Wiedersehen mit alten Freunden ist jetzt wichtiger als die Schillerpreisverleihung. Menschenliebe: hohe Wertschätzung Julian Schmidts (liebes Herz), eine Steigerung im Vergleich zum Herzensschmidt.

In einem weiteren Brief (vom Mai 1878) geht es wieder um den Schillerpreis. Dann in einem Satz auf der zweiten Seite wieder die (in diesem Kontext unerwartete) vertraute Anrede: "Es kommt aber, liebes Herz, wie die Dinge liegen, viel weniger darauf an, wen Ihr prämiert als dass Ihr überhaupt einem den Preis gebt und nicht wieder auf den Einfall kommt, dem guten alten Kaiser seine Medaille in die Tasche zurückzustecken." Mitten in einem Satz, in dem es ansonsten sachlich um die Preisverleihung geht, ragt diese vertraute Anrede heraus. Wenige Zeilen weiter am linken Rand findet sich die handschriftliche Ergänzung "dies nur für Sie, lieber alter Schmidt." Freytag entschuldigt sich dafür, dass er sich nicht um die für den Schillerpreis in Frage kommenden Werke gekümmert habe, weil (dies nur für Sie, lieber alter Schmidt) "ich in der letzten Zeit anderweitig bedrängt gewesen bin. Mein ältester Neffe Gustav, der fröhlich und frech aufgeschossen war, hat schon vor seinem Assessorexamen Sorge gemacht. Seitdem ist eine Gehirnkrankheit ausgebrochen und ich habe ihn gestern in eine Heilanstalt befördert. Das hat mich sehr zerzaust, denn meine Widerstandskraft gegen diese Art Schicksalstücke ist doch durch Früheres klein geworden." 77 Mehr wird nicht erklärt. Julian Schmidt weiß Bescheid, was diese Art Schicksalstücke bedeutet, was sich hinter dem Früheren verbirgt.

Wir blicken kurz zurück:

Schwere Jahre lagen hinter Freytag, Jahre, in denen - davon darf man ausgehen - Julian Schmidt (und wohl auch "sein Gemahl") Mitwissende seines Schicksals waren. Das Elend mit der Erkrankung der Ehefrau wird bereits für das Jahr 1866 bezeugt. In dieses Jahr fielen etliche Besuche Julius von Eckardts, der zu diesem Zeitpunkt fester Mitarbeiter bei den "Grenzboten" geworden war, im Hause Freytags. Dort begegnete Eckardt auch Freytags Gattin Emilie. Die ehemalige Gräfin von Dhyrn stellte keine positive Erscheinung dar: „die Frau Hofrätin… war eine alte, kränklich und verfallen aussehende Dame von vernachlässigtem Äußern und unsicherer Haltung, deren Erscheinung zu dem jugendlich kräftigen Wesen des Gemahls in auffälligem Gegensatz stand. Das schwere Gehirnleiden, das die letzten Lebensjahre der unglücklichen Frau verdüsterte, und das von Freytag mit außerordentlicher Geduld und Freundlichkeit mitgetragen wurde, war bereits damals im Anzuge und konnte vor den Bekannten des Hauses nur noch mühsam verdeckt werden.“ 78 Für Freytags strenge Zurückhaltung in privaten Dingen und die Abschirmung seines Privatlebens habe der Umstand der Erkrankung der Ehefrau die Hauptursache gebildet. 79

Um 1870 hatte sich die Krankheit von Gustavs Freytags Ehefrau weiter verstärkt. Julius von Eckardt berichtete in seinen Lebenserinnerungen von einem Empfang in Freytags Haus kurz bevor er die „Grenzboten“ verließ, um nach Hamburg überzusiedeln: Ich „nahm die Einladung zu einer kleinen Gesellschaft an, die Freytag… veranstaltete. Die Erinnerung an dieselbe gehört zu den peinlichsten, die ich von gesellschaftlichen Veranstaltungen überhaupt habe. Frau Freytags Gehirnleiden war während der letzten Jahre so sichtlich vorgeschritten, dass sie den gesamten Abend unter ihren Gästen mit blödem Lächeln dasaß, ohne zur Erfüllung der Pflichten der Hausfrau auch nur Miene zu machen. Die Lasten des Empfanges und der Bewirtung lagen ausschließlich auf Freytag, der die Plätze verteilen, die Aufstellung der Tafel besorgen und zugleich den Herrn und die Frau des (überdies engen und unbequemen) Hauses spielen musste, - eine Mühewaltung, der er sich mit höchster Geduld unterzog, von der seine Freunde indessen wussten, dass sie dem feinfühligen, an gute Formen gewöhnten Manne außerordentlich sauer ankam… Ich sehe Freytag noch vor mir, wie er mit Hilfe eines ungeschickten Lohndieners zwei Tische zusammenzufügen suchte, während einer mit Salomon Hirzel geführten Unterhaltung immer wieder durch Fragen nach Gläsern und Tellern unterbrochen wurde und alle Mühe hatte, sich der Gesellschaft auch nur so weit zu widmen, wie die Rücksicht auf die anwesenden Damen gebot. Alle Beteiligten atmeten auf, als des grausamen Spiels genug war und man um elf Uhr nach den Hüten greifen konnte.“ 80 Lange, seelisch belastende Jahre für Freytag. Die Verhältnisse des Jahres 1870 sind bereits schwierig. Noch 5 Jahre sollte sich das Leiden der Ehefrau hinziehen.

Das ist das Frühere, das Freytag in seinem Brief an Schmidt meint, wenn er von dem Gehirnleiden seines Neffen Gustav schreibt... Doch Freytag löst sich nach diesem persönlichen "Intermezzo" von seinen Erinnerungen ("Doch noch einmal zu unserem Geschäft.") und geht nochmals ausführlich über fast zwei Seiten auf für die Schillerpreisverleihung relevante Aspekte ein. 81

Doch die Nähe, ja, man kann sagen: die Anhänglichkeit an Julian Schmidt wird immer offensichtlicher. Wieder ein langer Brief aus dem Jahr 1878, datiert vom 19. September. Freytag ist immer noch in Siebleben. "Arge Bedrängnis" mit "Druckerverpflichtungen sowie eine ihn in diesen Tagen fordernde Familienangelegenheit (geht es noch immer um den Neffen?) halten ihn zurück nach Berlin zur Schillerpreisverleihung zu kommen. Es folgen mehr als drei Seiten Ausführungen zu ebendiesem bevorstehenden Ereignis. Und dann der Schluss des Briefes, gewaltig, vergleicht man ihn mit den Grußformeln früherer Jahre: "Ich grüße Sie , liebe Sie, segne Sie, Ihrem lieben Gemahl treue Huldigungen Ihres Freytags." 82 Die physische Begegnung in Berlin ist nicht möglich - Freytag sucht seelische Nähe, kämpft wohl noch bis zuletzt, ob er die Berlinreise schafft. Noch einen Tag vor der Preisverleihung, 4 Tage nach dem Absagebrief vom 19.9., gehen nochmals einige Zeilen an den Freund: "Mein lieber Freund. Eine Reise, die ich in Familiensorgen zu machen hatte, hat meine Genesungskraft so in Anspruch genommen, dass ich morgen nicht kommen kann. Es tut mir am meisten leid wegen des Mittags bei Ihnen u. Ihrem lieben Gemahl ." 83

Nach dem Tod seiner Gattin Emilie (13.10.1875) ging Gustav Freytag im folgenden Jahr ein enges Verhältnis mit seiner Hauswirtschaftsgehilfin Marie Kunigunde Dietrich ein. Marie war 29 Jahre alt, Freytag war 30 Jahre älter. Zwei Söhne, Willibald (geboren am 16.8.1876 in Heddernheim bei Frankfurt) und Waldemar (geboren im Herbst 1877 in Wiesbaden), gingen aus dieser Verbindung hervor. In Siebleben heiratete Freytag am 22.2.1879 Marie Kunigunde Dietrich. 84

Doch auch seine zweite Ehefrau war kränklich; sie verfiel zunehmend einem nervösen Leiden, welches einige Jahre später ihre dauernde Unterbringung in einer Nervenklinik nötig machte. Auch für die Zeit der zweiten Ehe Freytags galt der Grundsatz der strengen Abschirmung des Privatlebens: „Die eigentümlichen Umstände“, welche die zweite Eheschließung begleiteten, führten dazu, „dass er sich noch enger als früher abschloss und dass das elegante Haus, welches er zu Anfang der siebziger Jahre in Wiesbaden erwarb, nur in seltenen Ausnahmefällen geöffnet wurde. Freytags zweite Frau haben nur einzelne seiner nächsten Freunde (meines Wissens nur Prof. Ludwig und Dr. Wachsmuth) zu Gesicht bekommen; als ich ihn im Jahre 1880 besuchte, zeigte er mir sein Haus und die kleine Familie, die ich mir zugelegt habe mit dem Hinzufügen, dass die Mutter derselben leidend sei.“ 85

Gustav Freytag hatte nach seinem 60. Lebensjahr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und suchte häufig das wärmere Wiesbaden auf, um seinen Nieskrampf sowie die Atembeschwerden zu kurieren, worunter er im Alter litt. Sein erster Besuch in Wiesbaden datiert aus dem Jahr 1876. Mit seiner Familie wohnte er einige Zeit im Wiesbadener Hotel „Zur Rose“. In die Zeit der Geburten seiner Söhne fiel auch der Tod seines langjährigen Freundes und Verlegers, des 12 Jahre älteren Salomon Hirzel, am 8. Februar 1877 - ein weiterer schwerer Schlag.

Im folgenden Jahr verlegte Freytag seinen Winterwohnsitz nach Wiesbaden; kurze einsame Sommeraufenthalte in Siebleben brachten etwas Erholung. Seit 1881 nahm Freytag seinen Dauerwohnsitz in Wiesbaden. Er bezog eine im spätklassizistischen Stil 1868 erbaute Villa.

Julian Schmidt wurde umgehend per Postkarte am 11. August die neue Adresse mitgeteilt. "Lieber Freund! Die Adresse ist Wiesbaden, Hainerweg 12. Ich schreibe in Gedanken fast täglich Briefe an Sie. Gegenwärtig stecke ich noch im Umzuge aus einer hiesigen Wohnung in die andere. Sobald ich festhafte, müssen Sie sich mehr Schriftliches gefallen lassen... In Treue, mit herzlichem Gruß an die treue Doktorin, Ihr alter treuer F." 86 Treue, Alterstreue, über Jahrzehnte gewachsen. In Gedanken verbunden. Zwei alte Herren im Einverständnis. 


Ausklang (1886)

Im Jahr 1886 starb Julian Schmidt im Alter von 67 Jahren. Wie mag Gustav Freytag diese Nachricht verarbeitet haben? Einen persönlich gehaltenen Nachruf auf seinen jahrelangen Freund und Weggefährten hat er nicht verfasst. In den "Preußischen Jahrbüchern" wurde Freytags Grenzboten-Kapitel aus seinen "Lebenserinnerungen" als Beitrag seines Andenkens an Julian Schmidt veröffentlicht.

Freytag wendet sich zurück zu den Anfängen dieser Lebensfreundschaft und - er wählt ein Kapitel aus seiner "autozensierten" Quelle. Nach dem, was wir in der Einleitung dieses Aufsatzes gesagt haben, darf man annehmen, dass Freytag diese Textform wählte, um seinen Schmerz nicht öffentlich zu machen. Der Tod seines "Herzensschmidt" wird ihm sehr zu Herzen gegangen sein.

Man darf aufgrund der engen persönlichen Bindungen zum Ehepaar Schmidt annehmen, dass Freytag der Witwe, Elise Schmidt, geschrieben haben wird. Diese Korrespondenz zu finden, bleibt späteren Bemühungen überlassen, die sich der Erforschung von Gustav Freytags Biographie widmen. Gustav Freytag mit seiner dritten Ehefrau Anna Strakosch (Marmorstandbild im Garten in Siebleben) - eigenes Foto, 2009 -

 

 

Autor dieses Beitrages: Norbert Otto